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Jung, verliebt, Down-SyndromNico und Natalie wollen wieder zu Kasalla

Lesezeit 9 Minuten
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Nico Randel und Natalie Dedreux sind seit drei Jahren ein Paar. Der Lockdown nervt sie. Sie wollen wieder feiern. 

Natalie Dedreux und Nico Randel sitzen auf dem Sofa im Wohnzimmer von Natalies Mutter in Köln-Mülheim. Draußen ist der März regnerisch und zu kalt für ein Treffen im Park. Die beiden haben Kaffeetassen vor sich stehen, zwei Handys liegen griffbereit auf dem Tisch. Doch lieber greifen sie immer wieder nach der Hand des anderen. Dann wenden sie sich ihre Gesichter zu und tauschen tiefe Blicke. Natalie und Nico sind ein Paar. Beide haben das Down-Syndrom. Und beide sind sowas wie Stars der Down-Syndrom-Szene.

Die 22 Jahre alte Natalie wurde vor knapp vier Jahren schlagartig bekannt, als sie Angela Merkel im damaligen Wahlkampf in einer TV-Bürgerrunde folgende Frage stellte: „Neun von zehn Babys mit Downsyndrom werden in Deutschland nicht geboren, sie werden abgetrieben. Wie stehen Sie zum Thema Spätabbruch? Ich will nicht abgetrieben werden, sondern auf der Welt bleiben.“ Natalie Dedreux war damals kaum 18, sie saß mit ihrer schwarzen Lederjacke vor den Augen des deutschen Fernsehpublikums im Zuschauerraum. Der Text geriet flüssig, die Stimme bleib fest.

Die Frage an die Kanzlerin

Angela Merkel reagierte damals in Lübeck sichtlich angefasst, sie bezeichnete Natalie Dedreux als hoffnungsvolles Beispiel für alle Eltern, die ein Trisomie-Kind erwarten. Als Beleg dafür, was man mit Förderung und Bildung alles erreichen könne. Und die Kanzlerin verwies auf die durch die CDU-Fraktion eingeführte Pflicht, sich vor einer Spätabtreibung beraten und drei Tage bedenken zu müssen.

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Natalie Dedreux nickte und lächelte höflich. Genug sind ihr die Worte der Kanzlerin allerdings noch lange nicht. Seit ihrem Auftritt in der Wahlarena ist sie als „Incluencerin“ unterwegs, wie sie sich selbst bezeichnet. Sie postet Fotos von ihrem „coolen Leben“ in Sozialen Netzwerken und schreibt ihren eigenen Blog. Auch der Modezeitschrift Vogue gab sie im vergangenen Sommer ein Interview. „Ich hab gedacht, ich geh mal in die Vogue rein, damit die mal Menschen mit Down-Syndrom sehen“, sagte sie damals. Ihre Forderung ist von bestechender Einfachheit: „Ich will, dass wir die gleichen Rechte haben wie alle anderen."

Die Initialzündung für ihr politisches Engagement in Sachen Down-Syndrom kam mit dem Film „24 Wochen", in dem Bjarne Mädel und Julia Jentsch ein Elternpaar spielen, das sich für die Spätabtreibung entscheidet. „Da saß Natalie am nächsten Morgen am Küchentisch und fragte „Werde ich jetzt auch noch abgetrieben?" , erinnert sich ihre Mutter Michaela. Eine Frage, die Natalie antreibt. Die sie an vorderster Front derer kämpfen lässt, die einen Bluttest zur Erkennung einer Trisomie während der Schwangerschaft ablehnen.

Im Herbst 2019 entschied der Bundestag, dass Krankenkassen bei Risikoschwangerschaften Frauen einen Bluttest bezahlen, mit dem sie einfacher als bisher herausfinden können, ob der Fötus in ihrem Bauch Trisomie 21 hat. Ein Test, der häufig verhindert, dass Menschen mit Natalie Dedreuxs Genvariante geboren werden. 

Wie viele Schwangere sich nach einer Trisomie-Diagnose gegen die Geburt des Kindes entscheiden, ist statistisch deutschlandweit nicht erfasst. Analysen des Geburtenregisters der Universität Mainz haben ergeben, dass etwa jede dritte Trisomie-Schwangerschaft abgebrochen wird. Im Fehlbildungsregister Sachsen-Anhalt sind es sogar 60 Prozent. Der Test, der im Blut der werdenden Mutter schon von der zehnten Schwangerschaftswoche an Teile des kindlichen Erbguts nachweisen kann, ist seit 2012 zugelassen und weckt laut Stellungnahme der Behindertenverbände die Angst vor „einer Selektierung menschlichen Lebens.“ Die Debatte um die Pränataldiagnostik ist eins von Natalie Dedreuxs Herzensthemen. Sie hat eine eigene Petition gestartet, will dass möglichst viele unterschreiben, damit der Test wenigstens nicht von den Krankenkassen gezahlt wird.

Stadträtin, Model, Schauspieler

„Wir sind normal, Down-Syndrom ist cool und keine Krankheit“, sagt Natalie. „Ich will nicht, dass Babys mit Down-Syndrom vor der Geburt aussortiert werden. Sonst bin ich ja eines Tages ganz allein.“ Bislang ist Natalie Dedreux nicht allein. Weltweit machen Menschen mit Downsyndrom darauf aufmerksam, was man mit einem Chromosom zu viel erreichen kann. Da gibt es die spanische Stadträtin Angela Bachiller aus Valladolid, das australische Model Madeline Stuart oder den Schauspieler Sebastian Urbanski, der 2017 als erster Mensch mit Down-Syndrom im Bundestag sprach und heute im Vorstand der Lebenshilfe sitzt.

Und dann hat Natalie natürlich ihren Freund Nico Randel. Der 33-Jährige stammt aus Erftstadt-Lechenich, lebt aber schon seit vielen  Jahren in Köln. Früh lockten ihn die kreativen Möglichkeiten, die eine Stadt wie Köln, Menschen wie ihm bieten kann. Nico arbeitet im Kat18 im Kartäuserwall in der Südstadt, wo die Gemeinnützigen Werkstätten der Stadt Köln künstlerische Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen anbieten. Nico ist Künstler, seine Spezialität sind Sprüche, die er in einer besonderen Schriftart gestaltet und schon in Ausstellungen gezeigt hat.

Aber am allerliebsten ist Nico Randel Schauspieler. „Ich möchte in der Unterhaltungsbranche arbeiten“, sagt der junge Mann mit Bestimmtheit. Kürzlich wurde Nico vom Filmquest Festival in Utah als bester Schauspieler nominiert. Für den Film Superhero. Nico schlüpft darin in die Rolle von Max, einem jungen Mann mit Down-Syndrom. Max nimmt die Identität eines Superhelden an, um den nötigen Mut aufzubringen, einer Kindheitsfreundin seine Liebe zu gestehen.

Vieles hängt von der Förderung durch die Eltern ab

Auch Menschen mit Trisomie sind verschieden. Nicht alle werden Stadträte, Schauspieler oder Model. Viele arbeiten in Behindertenwerkstätten und erhalten Grundsicherung, einige lernen nie sprechen, andere sind zweisprachig. Einige können nicht laufen, andere fahren Ski und spielen Geige. Vieles hängt wie bei allen Kindern von der Förderung durch die Eltern ab. Natalie und Nico haben sich immer unterstützt gefühlt. Monique Timpermann, Nicos Mutter, musste in den 80er Jahren etwa noch dafür kämpfen, dass ihr Sohn nicht auf eine Schule für Menschen mit geistiger Behinderung gehen musste. "Ich wollte, dass er Schreiben, Lesen und Rechnen lernt. Aber die Schule, die ich ausgesucht hatte, sah das zunächst anders." Auch auf den Platz im Kunsthaus Kat 18 mussten sie und Nico jahrelang warten.

Aber Monique Timpermann gab nicht auf. „Ich wollte nicht, dass er in einer Werkstatt Schräubchen zusammendreht. Das entspricht einfach nicht seinem Talent und seinen Neigungen." In ihrer Küche hängt ein von Nico gestalter Schriftzug „I'm still standing". Kämpfen gehörte dazu. Und Hartnäckigkeit. Natalies Mutter, Michaela Dedreux, sagt: „Wir haben einfach überall geklopft und gesagt: Hier sind wir. Wir hatten Glück, die meisten haben uns reingelassen - von der Elterninitiative bis zum Zirkusprojekt. " Und auch die Schulen, auf die Natalie ging, waren schon seit Jahren inklusiv unterwegs. Die Rosenmaar-Grundschule und die Gesamtschule Holweide taten ihr gut, findet die Mutter. Michaela Dedreux brachte Natalie aber auch zum Schwimmtraining, zum Leichtathletik-Kurs, zur Physiotherapie. Zur Stärkung. Weil Down-Kinder schwächere Muskeln haben. 

Der Welt-Down-Syndrom-Tag

Der Welt-Down-Syndrom-Tag wurde erstmal im Jahr 2006 in Genf organisiert. Das Datum am 21. März symbolisiert die Trisomie: Das 21. Chromosom ist drei Mal vorhanden. Analoge Aktionen finden in diesem Jahr kaum statt, dafür haben verschiedene Verbände Videos produziert. Aus dem Erfinderland  Schweiz stammt der eigens komponierte Chanson "Moi aussi", bei dem 36 Familien mit Down-Syndrom-Kindern mitgewirkt haben und auf sehr charmante Art Gleichberechtigung fordern.  

www.moiaussi.org

Die Förderung trug Früchte. Nicos blaue Augen hinter den Brillengläsern werden noch heller, wenn er von seinem Traumberuf erzählt. „Ich habe in verschiedenen Theaterstücken mitgespielt und im Mai läuft der zweite Teil der Extraklasse mit Axel Prahl“, sprudelt es aus ihm heraus. In dem ZDF-Film muss Tatort-Kommissar Thiel als Lehrer eine buntgewürfelte Klasse im Zaum halten. Nico spielt einen seiner besonderen Schüler.

Er lud sie zum Essen ein

Das Theater hat auch Nico und Natalie zusammengebracht. Bei einem inklusiven Stück standen sie gemeinsam auf der Bühne. Anschließend lud Nico Natalie zum Essen ein. „Ich bin froh, dass er den ersten Schritt gemacht hat“, sagt Natalie und rückt auf dem Sofa noch ein bisschen näher an Nico heran. Richtig gefunkt hat es dann in Berlin vor drei Jahren.

Hilfe in Köln

Der Down-Syndrom Köln e.V. besteht aus 87 Familien mit Kindern mit Trisomie. Er bietet auch Schwangeren-Beratung an. Ein Ziel des Vereins ist es, betroffene Mütter für die Entscheidung für oder gegen das Ungeborene zu sensibilisieren. "Durch das Kassenangebot des Bluttests sinkt die Schwelle für eine Abtreibung signifikant. Vielen Schwangeren wird mit dem positiven Ergebnis gleich ein Termin für den Abbruch angeboten", sagt Kathrin Schultze-Gebhardt, die einen zehnjährigen Sohn mit Down-Syndrom hat. Der Vorteil des Vereins sei die Peer-to-Peer-Beratung, also von Betroffenen, die aus eigener Erfahrung vom Alltag mit einem Trisomie-Kind berichten können. Auch die Lebenshilfe Köln ist ein wertvoller Ansprechpartner für Familien mit Down-Syndrom-Kindern. 

down-syndrom-koeln.de

www.lebenshilfekoeln.de

Nico war dort zu Dreharbeiten für den Film Extraklasse, Natalie als Aktivistin gegen den Bluttest. „Ich saß mit meinen Eltern im Hotel Mondial beim Mittagessen, und Natalie setzte sich dazu", erinnert Nico sich. Ihre witzige Art ist Nico gleich aufgefallen. Wie sie lacht. Sie waren dann zusammen im Kino. „Wunder" stand auf dem Programm. Anschließend waren sie ein Paar. Hören zusammen Kasalla oder Musik der Reggae-Band Memoria.

Natalie, die nach dem Abschluss an der Gesamtschule Holweide eine Hauswirtschaftsausbildung in einer Werkstatt gemacht hat, ist inzwischen ihrem Traumberufsziel deutlich näher gekommen: Sie will Journalistin werden. Schreiben lag ihr schon immer. Heute arbeitet sie bei Ohrenkuss, einem Magazin aus Bonn, das von Menschen mit Down-Syndrom gemacht wird. Ihr Arbeitsplatz zählt offiziell als Außenarbeitsplatz einer Behindertenwerkstatt. Die Caritas bezahlt sie. „Aber wir bekommen nicht mal den Mindestlohn“, beschwert sich Natalie. Gerechte Bezahlung - auch so ein Punkt, für den Natalie Dedreux noch kämpfen will.

Bowlen, schwimmen, Party machen

Wenn Nico und Natalie frei haben, hängen sie am liebsten auf der Bowlingbahn rum. Oder im Schwimmbad. Auch auf Konzerte gehen sie gerne. Geht ja gerade beides nicht. Wegen Corona. „Das ist total doof, wir wollen so gerne wieder feiern“, sagt Natalie. Auch die Karnevalspartys in der Südstadt haben die beiden sehr vermisst. Im letzten Jahr waren sie als Brings verkleidet und sind gemeinsam im Schottenrock durch die Kneipen gezogen. Natalie trinkt Kölsch, Nico mag keinen Alkohol. „Das ist gut, dann kann ich besser auf sie aufpassen", sagt Nico und grinst. Ihre expressive und kreative Ader verbindet das Paar. Und Nico denkt auch ganz pragmatisch: „Natalie soll meine Journalistin sein und über meine Projekte berichten."

Nico ist vor einigen Jahren aus dem betreuten Wohnen in Sürth nach Hürth gezogen und lebt dort nun in einem Einzel-Apartment. Natalie hat ihren Lebensmittelpunkt in einer inklusiven WG in Lindenthal. „Direkt neben einem Bowling-Center, aber das ist noch geschlossen“. Die beiden besuchen sich, übernachten jeweils beim anderen, gehen aus und fahren in den Urlaub. Was die Zukunft so bringen könnte? „In meiner Stadt soll ein schönes Wetter sein, wenn ich meinen Freund heirate“, hat Natalie in das Skript für das Theaterstück geschrieben, bei dessen Proben sie Nico kennengelernt hat. „Ich will Natalie schon einen Antrag machen", sagt Nico. Hat aber alles noch Zeit. „Ich fühle mich noch nicht so reif“, sagt Natalie. Immerhin ist sie elf Jahre jünger als ihr Freund, der auch ihr erster ist.

Kinder kriegen? Vielleicht eines Tages. Doch vorher wollen sie die Welt erstmal zu zweit entdecke. Einmal nach Dubai reisen, wo Natalies Cousine wohnt. Und dann endlich auch mal wieder bei einem Kasalla-Konzert mitsingen und mittanzen. „Ich habe noch Freikarten, die sind noch das ganze Jahr gültig“, sagt Natalie. Das Ende des Lockdowns können beide kaum erwarten. Die Fortsetzung ihres ganz normalen Lebens. So wie alle anderen halt auch.

www.nataliededreux.com  

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