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Nonne und autistischer JungeZiemlich beste Freunde

Lesezeit 9 Minuten
Im Chorgestühl sitzt Maurice während der Sonntagsvesper immer vorne links, neben Schwester Agnes.

Im Chorgestühl sitzt Maurice während der Sonntagsvesper immer vorne links, neben Schwester Agnes.

Köln – Der zehnjährige Maurice und die Benediktiner-Schwester Agnes treffen sich regelmäßig im Kloster. Sie malen, sie spielen fangen, sie füttern die Schweine. Die Nonne wird klein. Der autistische Junge wird groß. Sie zeigt ihm ihre geschlossene Welt. Er schlüpft aus seiner heraus. In der Sonntagsvesper sitzt er neben ihr im Chorgestühl. Er, der sonst keine Freunde hat, sagt: „Schwester Agnes ist meine Freundin.“ Sie, die sich lange eine Familie gewünscht hat, sagt: „Maurice ist etwas Besonderes in meinem Leben.“ Freundschaft, zeigt die Geschichte, kennt keine Bedingungen.

Maurice ist ein Einzelner. Er liebt seine Eltern und seine Schwester Mona, konnte aber ihre Nähe lange nicht ertragen. Im Kindergarten hatte er keine Freunde, auch in der Schule bleibt er meist allein. Aber er hat eine Freundin, von der kaum jemand weiß. Sie heißt Schwester Agnes und lebt im Kloster in Raderberg. Freundschaft, schrieb der Philosoph Montaigne, zeichne sich durch Hingabe aus, sie müsse frei sein von Eigennutz. Maurice weiß gar nicht, was Eigennutz ist. Sich im Spiel hinzugeben, ist für ihn so selbstverständlich wie für Schwester Agnes die Hingabe zu Gott.

Marion Forouzis Gesicht hellt sich auf, als sie von Schwester Agnes erzählt. Sie sitzt an einem schläfrigen Nachmittag im Esszimmer des Mietshauses im Kölner Süden, an den Wänden Familienfotos, ein Katzenposter, Engel-Bilder, ein Aquarell mit dunkelroten Rosen. Mona kommt an den Tisch und sagt, dass sie auch gern in die Zeitung kommen würde. Oft geht es um Maurice, wenn Papa und Mama reden. Im Moment streiten sie vor Gericht um einen Integrationshelfer für die Schule, den das Sozialamt gestrichen hat. Maurice hat das fragile X-Syndrom mit autistischen Zügen. Er kann sich nicht gut auf andere konzentrieren. Er ist schnell erregt und frustriert. Auf kleinste Veränderungen seiner Umgebung reagiert er empfindlich. Ein fremdes Geräusch, ein fremder Geruch können panische Angst auslösen. Aus der Schule läuft er oft weg.

Maurice sieht oft sieht er versunken aus; oder er hibbelt. Oder er sitzt ganz normal da, wie jetzt. „Wir müssen uns oft beschimpfen lassen“, sagt Marion Forouzi. „Weil man nicht gleich sieht, dass Maurice eine Behinderung hat. Wenn er dann plötzlich losschreit, gucken die Leute böse. Einmal hat eine Frau im Bus gefaucht, ich solle meinen Sohn richtig erziehen.“

Maurice streichelt seine Siamkatze Tobi. Tiere beruhigen ihn, sagt sie. „Bifi?“, fragt er. „Willst du eine Bifi?“, fragt sie. „Ja“, sagt er. „Er liebt Bifis“, sagt sie. Als sie von Schwester Agnes redet und die Geschichte vom Friedhof beginnt, schaut er auf. „Kommt Schwester Agnes?“ „Nein, jetzt nicht. Wir fahren bald hin.“ „Ich will zu Schwester Agnes.“

Marion Forouzis Mutter ist an Karfreitag 1987 gestorben. Mona und Maurice besuchten vor sechs Jahren mit Mama und Papa an Allerheiligen das Grab der Oma, die Benediktinerinnen segneten am Südfriedhof die Gräber ihrer Schwestern. „Maurice sah Schwester Agnes, lief auf sie zu und zog ihr am Rock. Wir wollten ihn abhalten, aber sie sagte: Lassen sie ihn ruhig. Er guckte ihr in die Augen und ließ den Blick nicht von ihr. Das war unglaublich.“ Maurice habe seinerzeit nicht mal Mama und Papa in die Augen geguckt. Er konnte nicht sprechen, eine Logopädin sagte, er werde es nie lernen. „Wir hatten nicht gedacht, dass Maurice so eine Nähe aufbauen kann“, sagt Vater Aki, als er von der Arbeit nach Hause kommt. „Es war wie Magie.“

Im nächsten Abschnitt lesen Sie, warum Schwester Agnes sich für ein Leben im Kloster entschied

Schwester Agnes, die als Erzieherin in einem Kindergarten gearbeitet hat und sich eine Familie wünschte, bevor sie sich für ein Leben im Kloster entschied, erzählt es nüchterner. Sie sitzt in einem Besuchersaal des Klosters, der eingedeckt ist, weil Kardinal Woelki sich morgen vorstellen wird. Maurice Mutter habe sie angesprochen, weil sie Mona einer Ordensschwester vorstellen wollte – Marion Forouzi ist selbst von einer Ordensschwester im Kinderheim erzogen worden. „Als wir die Gräber gesegnet haben, ist Maurice dazugekommen. Er fand das mit dem Wasserspritzen spannend.“ Mona und Maurice durften helfen, die Gräber zu bespritzen.

Schwester Agnes beginnt zögernd. Sie ist es nicht gewöhnt, nach außen zu treten mit dem, was sie sagt. Sie strahlt eine sanfte Stärke, aber auch ein wenig Unsicherheit aus. Als sie vom Weihwasserspritzen erzählt, lacht sie. „Nach dem Weihen der Gräber schenkte Mona uns zwei Blätter. Ich habe sie gepresst und die Namen der beiden draufgeschrieben. Die Familie habe ich in meinen Gebeten übers Jahr mitgetragen.“ Sie hatte gemerkt, dass Maurice kein normal entwickelter Junge war; und sie spürte seine Freude. Sie sagt: „Vielleicht war da was zwischen uns. Sicher eine Form von Zuneigung. Wir waren einverstanden miteinander.“

Die Mutter sagt, derweil Maurice einen ferngesteuerten Hubschrauber durchs Zimmer fliegen lässt: „Schwester Agnes hat Maurice genommen, wie er ist. Er ist für sie keine Akte.“ Die Eltern erzählen lange von ihren Abnutzungskämpfen mit den Behörden. Maurice lässt seinen Helikopter fliegen. Er hat ihn auch im Kloster schon fliegen lassen. „Ich kann das besser als du“, hat er zu Schwester Agnes gesagt.

Ein Jahr später trafen sie sich an Allerheiligen auf dem Friedhof wieder. Maurice hüpfte, zeigte aufgeregt auf das Weihwasserfläschchen – er hatte Schwester Agnes wiedererkannt. Seine Mutter sagt, er habe ein fotografisches Gedächtnis. Die dritte Begegnung war nicht mehr zufällig. Als Mona sich auf ihre Kommunion vorbereitete, kam sie mit Mama und Maurice ins Kloster. Marion Forouzi fragte Schwester Agnes, ob sie sich nicht um Maurice’ Vorbereitung auf die Kommunion kümmern könne.

Ende November 2013 kam er zum ersten Mal zum Kommunionsunterricht. Als Frau Forouzi fragte, ob Maurice auch die Erstkommunion im Kloster empfangen könne, war Schwester Agnes anfangs dagegen. „Das ist ja fürs Kloster nicht vorgesehen“, sagt sie. „Auch, weil es bei der Kommunion um Gemeinschaft geht und Maurice nicht richtig dazu in der Lage ist.“ Sie lässt ihre Worte nachwirken, als sei sie nicht sicher, ob es stimmt, was sie gerade gesagt hat. Marion Forouzi habe ihr erklärt, dass Maurice nicht in einer normalen Messe zur Kommunion gehen könne. „In der Kirche“, sagt die Mutter, „hat Maurice immer irgendwann geschrien.“

Die Ordensschwestern entschieden, eine Ausnahme zu machen. Als Maurice im April 2014 zur Kommunion in die Klosterkapelle ging, saß er im Chorgestühl unter 20 Benediktinerinnen. Schwester Agnes hat mit Maurice ein Kommunionsbuch gestaltet, in dem Sätze stehen wie: Jesus wohnt in der Kirche im Tabernakel. Wenn du die Hostie isst, isst du Jesus. Er wohnt dann in deinem Herzen. „Maurice hat das sofort verstanden“, sagt die Schwester. Immer, wenn sie sich treffen, gucken sie sich zuerst das Kommunionsbuch an. Dann lesen sie eine Geschichte. Dann gehen sie in den Hof und füttern sie die Schweine. Dann spielen sie im Klostergarten. Dann gehen sie in die Messe. Für Maurice sind feste Abläufe wie eine Gehhilfe.

Vor seiner Kommunion hat er das Abendmahl mit seinen Eltern oft geübt. Dann aß der Prälat in der Messe die erste Hostie selbst. Maurice sagte laut: „Das kann nicht wahr sein!“ Die Schwestern lachten. Maurice lachte mit. Er sagt inzwischen zu Schwester Agnes: „Grüß Schwester Anna von mir.“ Er bringt den Schwestern Bilder mit. Er telefoniert mit Schwester Agnes und will dann allein sein. Wenn er ruft, wird er gehört. Und er hört zu, wenn seine Freundin redet.

Im nächsten Abschnitt lesen Sie, wie die Leute auf Maurice reagierten

In der Straßenbahn oder in der Schule schweigen die Menschen oft, wenn er etwas sagt. Oder sie verstehen ihn nicht. Einmal hat ein Junge alle Kinder im Kindergarten zum Geburtstag eingeladen, nur Maurice nicht. Im Park sagen die Kinder „Bist du blöd?“, wenn Maurice den Ball beim Fußballspielen in die Hand nimmt und ins Tor wirft. „Für Maurice da zu sein, ist eine Lebensaufgabe“, sagt sein Vater.

Schwester Agnes betet für andere, das ist ihre Lebensaufgabe. Um 6 Uhr beginnt die Laudes, um 7 Uhr ist Messe, um 11.30 Uhr Mittagshore, die Vesper um 17 Uhr, um 19 Uhr treffen sich die Schwestern in der Kapelle zu Komplet und Vigilien, dazwischen hat jede Nonne individuelle Lese- und Gebetszeiten. Ein fester Ablauf, wie ihn Maurice liebt. Schwester Agnes gefällt die strenge Ordnung nicht immer. „Es ist uns so vorgegeben. Und manchmal wehrt sich in mir auch etwas. Wir sind sehr eng zusammen hier, und wir sind nur Menschen.“ Aber meistens, versichert sie, sei es sehr schön.

„Ora et labora“ ist der Leitspruch der Benediktinerinnen, „Bete und Arbeite“. Schwester Agnes kümmert sich um Hausmeistertätigkeiten und zeigt Kommunionskindern die Hostienbäckerei. Sie sieht jünger aus als 36. Mit 17, 18 hatte sie einen Freund, sie wollte eine Familie; und sie machte Unbedachtes: Einmal fuhr sie bei starkem Regen auf der Autobahn 160 und musste eine Vollbremsung machen. Es passierte nichts. „Vielleicht war da was“, dachte sie. Mit dem Glauben war sie seit Kindesbeinen verbunden. Sie war Messdienerin, Lektorin und Missionarin auf Zeit. Als sie auf einer Wallfahrt zu Fuß 290 Kilometer in zehn Tagen schaffte, war da erneut was. Sie dachte daran, dass ihre Lebensgemeinschaft ein Orden sein könne.

Seit 2006 ist sie bei den Benediktinerinnen. Ohne Kinder würde ihr etwas fehlen. Sie sagt: „Es ist schön, von Kindern beeinflusst zu werden, auch von Maurice und Mona.“ Es ist 17 Uhr. Schwester Agnes geht mit Maurice in die Kapelle. Maurice stellt sich in die erste Reihe des Chorgestühls. Er beobachtet die Schwestern, die sich vor dem Altar verbeugen.

Er hat sein türkisfarbenes Hemd an, das er auch bei der Kommunion trug. Er sucht den Blickkontakt zu Schwester Agnes. Manchmal verbeugt er sich, wenn die Schwestern sich verbeugen. Manchmal bleibt er sitzen. Manchmal schneidet er eine Grimasse. Manchmal lächelt er Schwester Agnes an. Er steht nicht vom Stuhl auf während der halben Stunde. Er ist ruhig.

Heute darf er nach der Vesper die Kerzen auspusten. Vorher will er mit Schwester Agnes Verstecken spielen. Auf dem Hof haben sie eben Fangen gespielt. Vor den Schweinen hatte er Angst, die grunzten so gierig. Als sie die Hostienreste aus der Klosterbäckerei fraßen, hat Maurice gesagt: „Man darf nicht schmatzen.“ Er ist mit Schwester Agnes in den Heuschober gegangen und hat sich versteckt. Er wollte sie mit Heu bewerfen, aber seine Mutter sagte: „Lass das bitte.“ Schwester Agnes hat nur gelächelt. Sie sagt manchmal: „Seien Sie nicht so streng mit ihm, Frau Forouzi.“ Wenn er die Treppe runtergeht, sagt die Mutter, „halt dich gut fest!“. Maurice kenne keine Gefahr, sagt Marion Forouzi. „Er guckt auch nicht auf Autos, wenn er über die Straße geht.“ Die Mutter sieht aus, als sei sie seit zehn Jahren jede Minute auf der Hut. „Im Kloster“, sagt sie, „kann ich etwas entspannen.“

Als die Vesper zu Ende ist, verabreden Schwester Agnes und Marion Forouzi das nächste Treffen. Mona darf dann auch im Chor sitzen, wenn sie möchte. Maurice hat sich in der Kapelle versteckt. Er ruft: „Such mich, Schwester Agnes.“ Schwester Agnes findet ihn.

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