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Interview mit Anne Wizorek zu den Übergriffen in Köln„Rassistische Standpunkte überwiegen in der jetzigen Debatte“

Lesezeit 5 Minuten
Die Frau, die aufschreit: Anne Wizorek (Archivbild)

Die Frau, die aufschreit: Anne Wizorek (Archivbild)

Berlin  – Frau Wizorek, Sie haben bei Twitter den #Aufschrei gegen Rainer Brüderle angeführt. Schreien Sie jetzt auch?

Aufschrei wurde nicht gegen Rainer Brüderle initiiert. Das war ein zeitlich zufälliges Zusammentreffen. Deshalb ist es ein bisschen bizarr, dass man uns vorwirft, wir hätten Brüderle kritisiert, kritisierten aber nicht das, was in Köln passiert ist. Wir beschäftigen uns tagtäglich mit diesen Themen und verdeutlichen, dass Sexismus und sexualisierte Gewalt zusammen hängen.

Trotzdem steht der Vorwurf der Tabuisierung gegen die linke und liberale Öffentlichkeit im Raum.

Alles zum Thema Henriette Reker

Er ist absurd. Wir verurteilen sexualisierte Gewalt von Migranten genauso wie von Nicht-Migranten. Jeder Übergriff ist einer zu viel.

Noch ist nur teilweise klar, wer in Köln was genau getan hat und warum. Wie bewerten Sie denn das, was wir bisher wissen?

Dass Frauen im öffentlichen Raum sexuell belästigt werden, ist nicht neu. Aber die Massivität, in der das offenbar in Köln geschehen ist, die ist neu. Andererseits meldet das Oktoberfest pro Jahr im Schnitt zehn Vergewaltigungen; die Dunkelziffer wird auf 200 geschätzt. Im Karneval werden Frauen K.O.-Tropfen verabreicht. Darüber finden keine Debatten statt. Dabei zeichnet sich sexualisierte Gewalt dadurch aus, dass sie überall und von allen Schichten verübt wird, von Migranten ebenso wie von Nicht-Migranten.

Es macht aus Ihrer Sicht also keinen Unterschied, dass die Täter offenbar einen Migrationshintergrund hatten?

Nein. Warum sollte es das? Alle Menschen, die das tun, müssen bestraft werden. Der Unterschied besteht darin, dass die Vorfälle nun instrumentalisiert werden – gerade auch von Leuten, die solche Vorfälle während der Aufschrei-Debatte noch verharmlosten. Rechtskonservative, und leider auch einige Feministinnen, nutzen die Geschehnisse in Köln nun für rassistische Hetze.

Ist es nicht so, dass Männer aus der islamischen Welt mit einem anderen Frauenbild aufwachsen und deshalb eher zu sexueller Gewalt neigen?

Sexismus beschränkt sich nicht auf diese Menschengruppe. Er durchzieht unsere gesamte Gesellschaft – und das ist das Problem, über das wir reden müssen. Wir dürfen das Thema nicht nur dann entdecken, wenn es um Täter mit Migrationshintergrund geht. Die Leute, die die Vorfälle von Köln kritisieren, sind gleichzeitig oft jene, die sexualisierte Gewalt von Deutschen verharmlosen und betroffenen Frauen die Schuld daran geben.

Trotzdem: Potenzieren viele junge Männer aus muslimischen Ländern womöglich das Dilemma? Ein knappes Drittel der verdächtigen Sexualstraftäter sind Ausländer.

Die Probleme Sexismus und sexualisierte Gewalt sind wie gesagt schon längst da. Warum wir sie immer erst in den Fokus nehmen, wenn sie von muslimischen Männern ausgehen, verstehe ich allerdings nicht. Auch ein Rainer Brüderle war zum Beispiel unter Hauptstadt-Journalistinnen als notorischer Belästiger bekannt, aber mir ist nicht bekannt, dass er dem Islam angehört. Die deutschen muslimischen Männer, die sich für eine gleichberechtigte Gesellschaft stark machen, kommen wiederum in der Debatte gar nicht erst vor.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie Anne Wizorek die Probleme im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise sieht.

Sie sehen im Lichte der Flüchtlingswelle kein zusätzliches Problem?

Geflüchtete pauschal anders zu bewerten, finde ich erstmal problematisch. Man muss sexualisierte Gewalt ansprechen und kritisieren – aber nicht nur in Bezug auf eine Menschengruppe, sondern als gesamtgesellschaftliches Problem.

Die Polizei hat in Köln kaum oder gar nicht eingegriffen. Wie finden Sie das?

Die Polizei hat bereits eingeräumt, dass sie Fehler begangen hat. Am Ende war es anscheinend eine Folge von Personalmangel. Die Polizei hat erst gemerkt, was passiert war, als die Anzeigen eingetroffen sind. Silvester in einer Großstadt ist oft eine Ausnahmesituation. Das rechtfertigt aber nicht, dass die Polizei ihren Job nicht richtig macht.

Alice Schwarzer hat von Anfängen eines Krieges gesprochen.

Sie heizt genauso unnötig die rassistische Grundstimmung weiter an wie andere auch. Das ist bei Alice Schwarzer nichts Neues. Ich als Feministin finde es jedoch wichtig, zu zeigen, dass das nicht die einzige feministische Position ist. Mich stört außerdem, dass es in der Debatte nicht um bessere Hilfe für Betroffene geht. Sondern es geht vielen Leuten darum, zu demonstrieren, dass diese Gruppe von Männern für das angebliche Verhalten von allen Männern mit Migrationshintergrund steht.

Woher kommt es denn, dass vier Tage vergingen, bis die Vorfälle ruchbar wurden? Im Twitter-Zeitalter geht so etwas normalerweise schneller.

Nach Neujahr haben die meisten erstmal nicht das Bedürfnis, sich in sozialen Netzwerken zu tummeln. Außerdem wurden die Vorfälle in Köln nur mit Verzögerung überregional bekannt. Warum einige Medien erst mit Verzögerung reagiert haben, das kann nicht beurteilen. Aber manche haben ja auch schon Selbstkritik geübt.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Ereignissen?

In erster Linie hoffe ich, dass die Betroffenen gute Hilfe bekommen und das Trauma bewältigen können. Ansonsten zeigen die Vorfälle, dass der Stand der Debatte äußert unbefriedigend ist, weil rassistische Standpunkte derzeit überwiegen. Wichtig ist, zu verstehen: Sexualisierte Übergriffe geschehen jeden Tag und nicht nur an Silvester in Köln. Zahlen des Bundesfamilienministeriums zeigen: Knapp 60 Prozent aller Frauen in Deutschland wurden bereits sexuell belästigt, jede siebte hat strafrechtlich relevante Formen sexueller Gewalt erfahren. Diese Zahlen sind schon lange bekannt, finden aber in der Debatte kaum statt.

Hilft der Tipp der Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Frauen sollten stets eine Armlänge Abstand halten?

Man muss Frau Reker zugutehalten, dass ihre Tipps aus der Gewaltprävention kommen. Die Frage ist allerdings: Wie realistisch sind sie, gerade wenn wir von Taten in großen Menschenmassen sprechen? Außerdem ist es nicht in Ordnung, zu sagen, Mädchen und Frauen müssten ihr Verhalten ändern. Sondern die Männer sind es, die ihr Verhalten ändern müssen. Wir müssen über Geschlechterstereotype reden und wie sie sexuelle Gewalt begünstigen.

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