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Eltern, macht langsam!Wie Trödeln unsere Kinder schlauer macht

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„Kinder sind von ihrem Wesen her langsam und leben noch sehr in ihrem Gefühl“

Hier noch ein Turnkurs, da noch musikalische Früherziehung. Viele Eltern möchten ihre Kinder schon in ganz jungen Jahren gezielt fördern. Das Resultat ist oft, dass schon Dreijährige ein durchgetaktetes Wochenprogramm haben. Das geht in eine ganz falsche Richtung, sagt Erziehungsberaterin Ingrid Löbner in ihrem Buch „Gelassene Eltern, glückliche Kinder“. Ein Gespräch.

Eltern bekommen momentan viel öffentliche Schelte, weil sie „helikoptern“, sich ständig einmischen und überbehüten. Ist vielen Müttern und Vätern tatsächlich die Gelassenheit abhandengekommen?

Ingrid Löbner: Ja, so erlebe ich es täglich. Ich arbeite in vielen Elterngruppen und viele meinen, sie müssten die Kinder aktiv fördern. Sie sind mit den Kleinen sehr viel unterwegs, dauernd verplant, haben Termine oder Kurse. Eltern haben heute große Angst, dass Kinder ihren Weg nicht machen. Der Stress hat sich definitiv schon in die ersten Jahre der Kindheit verlagert. Die Angst, in unserer schnellen hektischen Welt nicht mehr mithalten zu können, übertragen die Großen auf die Kleinen. Dabei sind nicht die Kinder oder Eltern falsch, sondern das hohe Tempo, das wir leben und das überhaupt nicht zu unserer menschlichen Entwicklung passt.

Wie geht es denn besser?

Löbner: Ich möchte Eltern ermutigen, wieder mehr auf ihre Kinder zu hören. Kinder sind von ihrem Wesen her langsam und leben noch sehr in ihrem Gefühl. Sie werden quengelig und unruhig, wenn sich Eltern nicht darauf einstellen. Wir sollten Kinder nicht dazu bringen, unbedingt zu funktionieren, sondern wir Erwachsenen sollten das Tempo rausnehmen. Dazu fordern uns Kinder ganz klar auf.

Wie lässt sich das umsetzen?

Löbner: Dafür braucht man nicht in Kurse gehen. Wenn Kinder nicht mehr gut schlafen oder spielen, sollten Eltern nicht noch mehr machen, nicht noch mehr anbieten, sondern Ruhe-Inseln schaffen. Das geht für Eltern heute bei dem Tempo der Berufswelt natürlich nur, wenn sie auch beruflich nicht abgehängt werden, realistische Pausen eingeräumt bekommen und mehr Unterstützung erhalten. Es braucht auch mehr Entwarnung aus der Fachwelt: Kinder entwickeln sich bestens, wenn sie ins Tagträumen und ins Spielen finden.

Ist es auch diese Ruhe, die Babys fehlt, wenn sie stundenlang schreien?

Löbner: Erst wenn die Eltern ruhig sind, kann auch das Baby ruhig werden. Wenn das zu lange nicht gelingt, sollten sich Eltern Hilfe holen. Dauerhaftes Schreien des eigenen Kindes ist schrecklich auszuhalten und auch Mütter oder Väter brauchen in dieser Situation jemanden, der sie hält, der ihnen Halt gibt. Ich habe schon stundenlange Sitzungen dazu gehabt mit Eltern, und immer geht es um die Frage: Wie komme ich als Mutter oder Vater in meine innere Balance?

Wie klappt das denn konkret?

Löbner: Schon kleine Babys haben viele Gefühle und ein bewegtes Innenleben und drücken das durch Schreien aus. Manche haben eine besonders schwere Geburt hinter sich und müssen das Erlebte erst einmal komplett raus lassen. Nur mehr innere Ruhe ist ein konstruktiver Weg, sonst entsteht ein Teufelskreis, in dem sich Eltern und Kind gegenseitig hochschaukeln.

In den Momenten größter Anspannung gilt es, Ruhe zu bewahren?

Löbner: Kinder zwingen uns zur Langsamkeit. Sie sind noch ganz in ihrem psychischen und körperlichen Befinden und sie funktionieren nicht auf Knopfdruck. Eltern können gar nicht anders, als sich darauf einzulassen. Und dann kommen Kinder aus ihrer Nervosität und Anspannung fast von selbst in die Ruhe. Größere fangen an, endlich wieder versunken zu spielen.

Ein Konzept, das im krassen Gegensatz steht zu unserer schnelllebigen Zeit.

Löbner: Ich bin überzeugt: Wir haben heute unter anderem auch deshalb so viele ADHS-Diagnosen, weil wir unserem Bedürfnis von Langsamkeit im Alltag nicht mehr nachgeben. Der Mensch kommt dem aktuellen Tempo schlichtweg nicht mehr hinterher. Das ist nicht natürlich. Das sehen wir auch daran, dass wir später im Alter ja auch alle wieder langsamer werden.

Wie können Eltern es denn im Alltag anders machen?

Löbner: Eltern denken heute, sie müssten alles antreiben, vor allem ihre Kinder. Sie wollen, dass diese unbedingt schnell selbstständig werden. Das ist das große Credo unserer Zeit, doch es überfordert kleine Kinder vielfach. Sie werden quengelnder und angespannter. Viele Eltern denken, sie machten und förderten zu wenig, das Kind brauche mehr Beschäftigung. Doch das Gegenteil ist richtig. Kinder brauchen mehr Zeit für Spiel und Trödeln. Es reicht völlig, wenn Kinder erst ab dem Schulalter ein Hobby haben. Vorher muss das nicht sein.

Viele haben heute Angst, Zeitfenster in der Entwicklung ihrer Kinder zu verpassen.

Löbner: Dabei sind sich die Hirnforscher einig: Wenn Kinder vor allem viel spielen und langsam, verträumt sein dürfen, ist das gut für eine gesunde Hirnentwicklung. Dann bilden sich im Gehirn stabile Strukturen, dazu eine Vielzahl an Nervenbahnen. Das ständige Antreiben und Fördern ist ein Irrtum, weil es genau diese Prozesse eigentlich verhindert.

Mein Vierjähriger ist der Einzige in seinem Freundeskreis, der momentan keinen Nachmittagskurs besucht. Manchmal denke ich: Sollten wir nicht doch ...?

Löbner: Herzlichen Glückwunsch. Sie machen es richtig. Lassen Sie es so.

Vielen Eltern fällt es schwer, gegen den Strom zu schwimmen.

Löbner: Doch gerade das sollten sie mutig tun. Oft liegen wir mit unserem Gefühl richtig, und erst Jahre später gibt es dann die passenden wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu. Vielen Müttern war vor 30 oder 40 Jahren auch nicht wohl dabei, ihr Baby nur alle vier Stunden strikt nach Plan zu stillen. Oder ihr Kind allein im Krankenhaus zu lassen. Heute wissen wir, dass es anders besser ist.

„Eltern sollten auf die Barrikaden gehen und bessere Lösungen einfordern“

Eltern meinen es gut, sie haben für ihre Kinder die besten Absichten.

Löbner: Ja, Erziehung ist heute sehr dialogorientiert, Eltern wollen ihre Kinder mehr einbeziehen, das ist gut. Gleichzeitig macht es aber auch unsicher. Eltern fragen sich: Was soll ich mit meinem Kind diskutieren und was nicht, wo ist die Grenze? Intellektuell argumentieren hilft oft nicht, es strengt alle nur an. Viel besser ist es, sich in das Kind einzufühlen. Für kleine Kinder ist alles um sie herum belebt, sie leben noch stark in ihrer Fantasiewelt und denken nicht wie wir Erwachsene.

Wo verläuft denn die Grenze?

Löbner: Alles was gefährlich wird, braucht man nicht zu diskutieren, zum Beispiel im Straßenverkehr. Oder wenn es um passende Kleidung zum Wetter geht, weil das Kind sonst krank werden könnte. Oder wenn das Kind nur Süßes essen will. Da dürfen Eltern auch mal sagen: „Es wird so gemacht, weil ich deine Mutter oder dein Vater bin und weiß, was Kinder brauchen.“ Doch wenn die Ideen unserer Kindes unser aller Lebensgefühl verschönern, und das tun sie oft, dann sollten wir das zulassen.

Wie meinen Sie das genau?

Löbner: Kinder halten uns ja einen Spiegel vor. Und dieser sagt oft: Eigentlich müsstest du langsamer machen mit mir, das heißt verträumter, verspielter mit mir das Leben erleben. Darum sollte es doch gehen in der Kindheit. Um Freude, um Versonnensein. Kinder fordern uns dauernd dazu auf, mehr Gefühle und Intensität zuzulassen.

Viele Eltern fühlen sich heute aber stark unter Druck - vom Job, vom Partner, auch vom Kind.

Löbner: Und sie lösen diesen Druck meist zugunsten ihrer Arbeitszeit. Sie arbeiten mehr. Auch aus finanziellen Gründen, natürlich. Dabei sollten sie auf die Barrikaden gehen und bessere Lösungen von der Politik für Familien einfordern. Es ist inzwischen gesellschaftlicher Konsens, dass beide Eltern nach einem Jahr wieder arbeiten gehen. Fast niemand redet darüber. Und das obwohl inzwischen so viel über die Wichtigkeit von Bindung gesprochen wird, gerade in den ersten Jahren.

Sie sehen das kritisch?

Löbner: Ich bin viel in Elterntreffs und sehe dort: Auch Zweijährige wollen oft noch jede halbe Stunde zurück zu ihren Eltern. Sie bleiben dann ein paar Minuten auf dem Schoß, versichern sich ihrer Verbundenheit und gehen wieder spielen. Doch viele Eltern trauen sich heute gar nicht mehr zu sagen: Ich bleibe länger zu Hause. Wir treiben uns alle gegenseitig an. Doch die Mehrheit hat nicht immer Recht.

Die Gesellschaft muss akzeptieren, dass kleine Kinder vor allem Zeit brauchen. Und man sollte Eltern diese Zeit ermöglichen und das Ganze entsprechend existenziell sichern mit Ein- und Ausstiegszeiten im Beruf und Arbeitszeitkonten, damit Eltern da sein können.

Wenn Erwachsene heute auf die Höhepunkte ihrer Kindheit zurückblicken, erinnern sie sich an keine Förderkurse. Sie erinnern sich, wie sie mit anderen Kindern draußen durch die Gegend gestreift sind und ihr Ding gemacht haben. Kreatives Spiel ist das A und O für eine starke Entwicklung von Kindern.

Buchtipp: Ingrid Löbner: Gelassene Eltern, glückliche Kinder, Fischer und Gann, 2016

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