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Jesper JuulWie können Eltern trotz Familienstress Liebende bleiben?

Lesezeit 6 Minuten
Ein Paar und sein Baby

Wie kann man die Nähe zum Partner bewahren, wenn Kinder den Alltag einnehmen?

Der dänische Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul ist am 25. Juli 2019 an den Folgen einer Lungenentzündung verstorben, wie die Süddeutsche Zeitung in Berufung auf das von Juul aufgebaute familylab bekanntgab. Juul wurde 71 Jahre alt. Seit 2012 war er brustabwärts gelähmt und lebte zuletzt zurückgezogen in Dänemark. Er hat zahlreiche Erziehungsratgeber geschrieben, darunter "Dein kompetentes Kind", "Grenzen, Nähe, Respekt", "Elterncoaching" und "Nein aus Liebe". In "Liebende bleiben" rät er Eltern, mehr an sich zu denken und ihre Liebesbeziehung auch im stressigen Alltag mit Kind weiter zu pflegen. Anlässlich seines Todes veröffentlichen wir noch einmal unsere Rezension zu diesem Buch.  

Schon wieder ein Trotzanfall - Streit und Geschrei vor dem Abendessen. Und bestimmt landet das Kind auch diese Nacht wieder im Elternbett und macht sich dort fuchtelnd breit. Am nächsten Morgen warten die nächsten Launen und Bedürfnisse, außerdem viel zu viel Arbeit im Job, die Windel-, Wäsche- und Geschirrberge, der Kampf um die Hausaufgaben, die Fahrdienste und Kita-Arbeitseinsätze. Der Alltag von Müttern und Vätern ist heute vollgepackt, anstrengend und stressig. Wo bleibt da eigentlich die Romantik? Die Zweisamkeit? Die Intimität?

Streit und Vorwürfe statt Kuscheln und Sex

Die Gefahr, dass Paare sich verlieren, wenn sie Kinder bekommen, ist real. Weil sie so in ihrem Alltag als Familie und Versorger eingebunden sind, so in der Erschöpfung untergehen, dass sie ihre eigenen Bedürfnisse und die als Paar außer Acht lassen. Bis sie sich selbst vielleicht nicht mehr erkennen, das Gespür für den Partner und die Freude aneinander verloren haben. Statt Kuscheln, Liebesbekundungen und Sex gibt es Erziehungsdifferenzen, Streit um den Haushalt und Vorwürfe.

Aber wie können Eltern immer noch Paar bleiben, wenn das Familienchaos erst einmal ausgebrochen ist? Der weltberühmte dänische Familientherapeut Jesper Juul hat sich in seinem Buch „Liebende bleiben“ genau mit dieser Frage beschäftigt. Und er setzt direkt da an, wo das Gefühlsdurcheinander stattfindet, bei betroffenen Eltern. In sieben Interviews erzählen ganz verschiedene Paare aus ihrem Familienalltag und schildern konkrete Probleme. Es geht dabei um tägliche Auseinandersetzungen, die viele Eltern kennen. Um die Hilflosigkeit, wenn ein Partner viel weg ist. Um die Wut, wenn der andere „falsch“ erzieht. Um die Enttäuschung, wenn das Gegenüber wieder einmal gar nicht so agiert, wie man es erwartet. Und einfach alles zu viel wird.

„Zweisamkeit ist Elternrecht“

Jesper Juul spricht in seinem Buch aber auch schwierige Familiensituationen an, etwa wenn ein Partner suchtkrank oder depressiv ist, ein Elternteil eine extreme Nähe zum Kind hat oder die Beziehung kurz vor der Trennung steht. Der Familientherapeut fragt direkt und ungeschönt nach und lässt so die Eltern selbst ergründen, was sie eigentlich brauchen. Für die Paare geht es durchaus ans Eingemachte. Der typische Juulsche Humor aber führt dazu, dass die Gespräche nicht in düstere Ringkämpfe ausarten, sondern auch eine gewisse Hoffnung mitschwingt. Am Ende jedes Interviews – und das ist der Schatz dieses Buches - formuliert Juul gezielte Ratschläge für das Paar, die aber so lebensnah und prägnant sind, dass sie auch vielen anderen Eltern helfen können.

Den einen Geheimtipp für eine glückliche Beziehung hat Juul übrigens nicht auf Lager: „Es gibt hier kein Geheimrezept, leider.“ Entscheidend sei aber, zu verstehen, dass die Eltern-Beziehung wichtig ist. „Es ist meine tiefe Überzeugung: Zweisamkeit ist Elternrecht“, sagt Juul. Das Beste, was Mütter und Väter für ihre Kinder tun könnten, sei, gut auf ihre Beziehung als Paar aufzupassen. Und dazu müssten sie auch einmal den Fokus vom Kind wegnehmen und deutlicher Nein zu ihm sagen. Auch Kinder könnten verstehen lernen, was Mama oder Papa wichtig ist. Gerade Müttern falle es aber schwer, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen. „Manchmal ist es wichtig, dass Eltern zuerst an sich denken“, so der Familientherapeut, „statt immer nur das Beste für die Kinder zu wollen.“

Tipps von Jesper Juul (Buch-Zitate): Wie Eltern lernen, an sich zu denken und wieder mehr Paar werden

Zeit für sich selbst ist gut

„Jeder Mensch muss das Recht haben, auch mal Zeit nur mit sich selbst zu verbringen.“

Nicht nur die Kinder sind wichtig

„Es ist in Ordnung, dass einem der Beruf, die Arbeit zu bestimmten Zeiten wichtiger ist als die Kinder. Deshalb liebt man seine Kinder nicht weniger. Wenn ihr als Eltern das klar vermitteln könnt, lernen eure Kinder von euch, dass es möglich ist, Nein zu sagen und sich abzugrenzen.“

Jetzt sind die Erwachsenen dran

„Kinder brauchen klare Sätze wie: ‚Wir Erwachsenen wollen jetzt miteinander reden.‘ Oder: ‚Ich will jetzt mal mit Papa alleine kuscheln, lass uns einen Moment in Ruhe und geh spielen.‘ Die Kinder erleben das am Anfang als Frustration, aber je konsequenter man sich an eine persönliche und klare Sprache hält, erfahren sie, dass diese Worte sie nicht als Person zurückweisen.“

Kindern zeigen, wie man für sich einsteht

„Wenn ihr in der Familie klar miteinander sprecht, dann können sich eure Kinder von euch abschauen, wie man sich für seine eigenen Bedürfnisse, Wünsche, Belange einsetzt und sich von anderem abgrenzen kann.“

Jeder Partner ist anders

„Akzeptiere, dass dein Partner anders ist als du, dass er sich anders verhält als du. Es ist völlig in Ordnung, dass Partner unterschiedlich sind, auch im Familiensystem. Frage also nicht: Was ist richtig, und was ist falsch? Weder du noch dein Partner verhaltet euch richtig oder falsch. Jeder verhält sich anders, weil jeder seine eigenen Erfahrungen mit Erziehung und Familie gemacht hat und von seinem eigenen Temperament, seiner Persönlichkeit geleitet wird.“

Den Partner als Mutter/Vater akzeptieren

„Wer den Partner immer nur kritisiert, fordert ihn stetig zu Streiten heraus. Wenn ein liebevolles Miteinander wieder neu wachsen soll, wird [man] nicht umhinkommen, dem [Partner] wie er als [Mutter/Vater] ist, zu akzeptieren. Auch wenn man selbst in bestimmten Erziehungssituationen anders handeln [würde].“

Erwartungen deutlich formulieren

„Für unsere Erwartungen sind wir selbst verantwortlich – nicht der Partner und nicht die Kinder: Ich bin verantwortlich. Wenn ich erwarte, dass meine Frau dies und jenes tun soll, dann muss ich mit ihr reden und sagen: ‚Das erwarte ich.‘ Und meine Frau kann sagen: ‚Hm, viel Glück“!‘, oder: ‚Mache ich aber nicht.‘, oder: ‚Ja, meine ich auch.‘ Und dann werden wir sehen.“

Auch Eltern dürfen wütend sein

„Wut ist wunderbar, das gilt auch für Erwachsene. Wenn ihr wütend seid auf den anderen, redet darüber miteinander. So oft kümmert ihr euch um die Wut der Kinder, schaut genauso auch mal nach euch beiden.“

Manchmal braucht es eine Trennung

„Eine Trennung löst nicht [alle] Partnerschaftsprobleme. Sie ist aber manchmal die letzte Chance, sich gegenseitig nicht noch mehr zu verletzen und mit Abstand neu auf den Partner und sich selbst blicken zu können. Auch um das Wohl der Kinder zu schützen.“

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