Abo

Acht Tage im DschungelAnnette Herfkens überlebte als einzige einen Flugzeugabsturz

Lesezeit 5 Minuten
Neuer Inhalt

Annette Herfkens in Nha Trang: Der Ferienort, an den die Niederländerin 1992 mit ihrem Verlobten reisen wollte – wo sie nie zusammen ankamen

Es ist ein Alptraum, der zwei Schreckensszenarien vereint: ein Flugzeugabsturz und der Verlust eines geliebten Menschen. Annette Herfkens hat sie beide erlebt – und überlebt.

Über ihre Rettung, die Zeit nach dem Flugzeugabsturz und ihr neues Leben hat die Niederländerin ein Buch geschrieben, das kürzlich auf Deutsch erschienen ist, Titel: „Der Tropfen, der mich zur Quelle führte.“ Dabei liest sich Herfkens' Lebensgeschichte so unglaublich, dass man fast schon geneigt ist, an Wunder zu glauben.

Die Bankerin und ihr Verlobter Willem van der Pas, der zu der Zeit in Vietnam arbeitete, stiegen am Morgen des 14. November 1992 in ein kleines Flugzeug, eine Yakolev 40, kurz Yak, auf dem Flughafen von Ho-Chi-Minh-Stadt.

Es sollte der Start in ein schönes Wochenende an der Küste in Nha Trang werden. Doch die 31-Jährige und Pasje, wie sie ihren Verlobten nennt, kommen nicht an ihrem Ziel an. Genauswenig wie die anderen 22 Passagiere, die drei Stewardessen und der Bordingenieur von Flug VN474.

Annette Herfkens war nicht angeschnallt – und überlebte als einzige

Das Wetter verschlechtert sich, es kommt zu heftigen Turbulenzen, der Pilot begeht Vietnam Airlines zufolge vermutlich einen Navigationsfehler. Mit 500 Stundenkilometern prallt die Maschine rund 40 Kilometer vor dem Ziel gegen einen Berghang, verliert einen Flügel und zerschellt an der nächsten Felswand. Annette Herfkens war im Gegensatz zu den anderen Passagieren nicht angeschnallt  – und überlebt wie durch ein Wunder als einzige das Unglück.

„Ich flog von meinem Sitz, krachte durch die Kabine wie ein einsames Wäschestück in einem Trockner, schlug mit Kopf und Gliedmaßen gegen die Decke, gegen Gepäckfächer und Sitze. Irgendwann muss ich gelandet und mit den Füßen zuerst unter einen Sitz gerutscht sein. Dort blieb ich stecken, und das schützte mich vor dem zweiten stärkeren Aufprall, bei dem das Flugzeug in drei Teile zerbrach.“ Dann wird ihr schwarz vor Augen.

Nächste Seite: „Alle sind tot. Alle, außer mir.“

Als Herfkens erwacht, ist sie mitten im Dschungel, ein toter Körper liegt auf ihr. Sie ist umgeben von Leichen und Wrackteilen, ihr Verlobter ist tot. Sie selbst kann sich vor Schmerzen nicht bewegen: „Mein rechter Fuß ist blutverschmiert, die Haut am Knöchel scheint wie abgerissen. Aber am schlimmsten sieht mein Schienbein aus: Ich kann den Knochen sehen. Zehn Zentimeter bläulicher Knochen, die aus dem Muskel herausragen. Wie im Biologiebuch.“

„Alle sind tot. Alle, außer mir.“

Ein junges Mädchen stöhnt, ein schwer verletzter Mann beruhigt sie: „Keine Sorge, man wird nach uns suchen.“ Doch nach ein paar Stunden verstummt das Stöhnen des Mädchens, der Mann antwortet Herfkens nicht mehr. „Ich flehe ihn an: 'Bitte nicht sterben. Verlassen Sie mich nicht!'“ Aber ihr Flehen nützt nichts. „Kein Geräusch mehr, keine Bewegung der anderen Fluggäste. Alle sind tot. Alle, außer mir.“

Sie zwingt sich, nicht an ihren Verlobten zu denken, dessen Leichnam immer noch angeschnallt in einem Flugzeug-Sitz steckt. Sie zwingt sich, nicht zu weinen, weil das noch mehr Durst macht. Sie zwingt sich, an ihren Job zu denken, an die Börse, an die Anleihenmärkte, an ihre Arbeitskollegen. Sie zwingt sich zu überleben.

Sie schaut nicht nach unten auf ihre Wunden, auf die Blutegel

Sie schaut nicht nach unten auf ihre Hände, an denen sich Blutegel laben, sie schaut nicht auf die Leichen, die inzwischen von Maden befallen sind, sie schaut nicht auf ihre Wunden und Verletzungen, sondern nach oben, in den Himmel. „Ich blicke zu den Bäumen, den Pflanzen, den Blättern. Als könnte ich sie einatmen und nicht diesen üblen Geruch.“

Monsunregen bewahrt vorm Verdursten

So verharrt Herfkens taglang allein mitten im Dschungel, meist versucht sie zu schlafen, den Schmerz und den Durst zu ignorieren – und dann gibt es am dritten Tag endlich Regen. „Ich öffne den Mund so weit wie möglich, genieße jeden Tropfen.“

Nächste Seite: Das gerettete Leben als Geschenk

Sie schafft es schließlich, sich mit ihren gebrochenen Beinen ein bisschen zu bewegen. Sie zieht Isolationsmaterial aus dem Flugzeugwrack und lässt es das Regenwasser aufsaugen. Am Sonnenstand schätzt sie die Uhrzeit und erlaubt sich alle drei Stunden einen Schluck Wasser.

In ihrer großen Not nimmt sie die Welt um sich herum sehr intensiv wahr, ihre Nahtoderfahrung offenbart ihr die Schönheit des Lebens. „Am Anfang habe ich mich zwingen müssen, mich auf die Schönheit zu konzentrieren, jetzt bin ich ein Teil von ihr. Ich bin eins mit allem um mich herum.“ Herkfkens' Buch beschreibt nicht nur einen Überlebenskampf, sondern ist auch ein Appell (bewusst) zu leben. Am achten Tag nach dem Absturz wird sie schließlich von einer Gruppe Vietnamesen gefunden – und endlich gerettet.

Das gerettete Leben als Geschenk

Ihr gerettetes Leben sieht sie als „Geschenk“. An Silvester macht sie ihre ersten Schritte in ihr neues Leben. Die 31-Jährige fühlt sich wieder wie ein Kleinkind: „Mein Vater geht neben mir her mit demselben Blick, den er wohl gehabt hat, als ich vor dreißig Jahren zum ersten Mal über denselben Teppich ging.“ Scheinbar mühelos nimmt Herfkens bald wieder ihre Arbeit auf. Etwa drei Jahre nach dem Absturz geht sie nach New York, sie heiratet und bekommt zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Aber der Flugzeug-Absturz und die Rettung durch den Monsun-Regen bleiben Teil ihrer Geschichte. „Noch Jahre lang danach trug ich immer eine Flasche Wasser bei mir. “

Der Verlust des Verlobten, ihr geschenktes Leben, prägen Herfkens. Auch um ihr Schicksal aufzuarbeiten, reist sie 2006 zum ersten Mal zurück nach Vietnam. In den Dschungel. An die Unglücksstelle. Zu dem Berg, an dem ihr gemeinsames Leben mit Pasje zerschellte. „Vor allem aber möchte ich endlich dieses Meer sehen, an dem Pasje und ich unsere Ferien verbringen wollten.“

Annette Herfkens: Der Tropfen, der mich zur Quelle führte. Lübbe, 302 Seiten, 16,99 Euro.

KStA abonnieren