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Opladener DramaDie Frage nach dem Warum bleibt

Lesezeit 7 Minuten
Nachbarn haben Blumen und Kerzen vor dem Haus niedergelegt.

Nachbarn haben Blumen und Kerzen vor dem Haus niedergelegt.

Leverkusen-Opladen – "Fahr nach Opladen", lautete der Auftrag. "Ein Vater hat seine beiden Töchter umgebracht. Warum hat er das getan?"

Opladen an diesem Dienstag. Schnee fällt in dichten Flocken, die Straßen sind rutschig und nass. Jula (zehn Monate) und Maja (drei Jahre) sind seit etwa 60 Stunden tot. In den Abendstunden des Samstags hat Udo L. (33) seine beiden Töchter erstickt und ist anschließend zu Fuß Richtung Bahnhof gegangen: Reuschenberger Straße, Steinstraße, Gartenstraße. In der Nähe des Bahnhofs hat er sich eine Minute vor Mitternacht vor einen ICE geworfen. Er war vermutlich sofort tot.

Die Reuschenberger Straße liegt an diesem Morgen unter einem tief hängenden grauen Himmel. Von Ferne hört man das Rauschen der A 3, gelegentlich fährt ein Auto durch die stille Wohnstraße. Die Mehrzahl der Häuser hat lichte, grüne Fassaden und dunkle Gaubendächer. Haus Nummer 3 sticht ein wenig heraus aus dem baulichen Einerlei: Ein flacher weißer Vorbau schiebt sich Richtung Bürgersteig. Die Jalousien sind heruntergelassen, in der ersten Etage steht ein Fenster auf Kipp.

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Das Auto ist abgeschleppt

Bis vor wenigen Jahren befand sich in dem Haus das "Gasthaus Bick". Heute gehört es der Familie L. Udo L. hat es komplett umgebaut, zwei Wohnungen sind untervermietet. In der dritten wohnten er und seine Familie.

Hinter dem Haus, versteckt hinter einem mannshohen Sichtschutz aus Holz, erstreckt sich ein großer Garten. Ein verschneiter Weg führt daran vorbei und weiter einen sanft ansteigenden Hügel hinauf. Der Pfad wird vor allem von Hundebesitzern benutzt.

Die Fotografen sind inzwischen verschwunden, die am vergangenen Sonntag, wenige Stunden nach der Katastrophe, ihre Kameras über den Sichtschutz schoben, um den Garten zu fotografieren: den aufblasbaren bunten Ball und das Kindertrampolin mit dem Sicherheitsnetz; die Satellitenschüssel an der Hauswand und den roten Hocker, der wohl der ältesten Tochter als Aufstiegshilfe diente. Der weiße Honda der Familie, der Sonntagmorgen mit heruntergelassenen Seitenfenstern und regennassen Sitzpolstern vor dem Haus gefunden wurde, ist inzwischen abgeschleppt worden.

An diesem Dienstag verlangsamt nur noch gelegentlich ein Auto seine Fahrt, während es das Unglückshaus passiert. Frauen mit Hunden marschieren mit geradeaus gerichtetem Blick daran vorbei. "Ich will Ihnen nicht ins Bild laufen", sagt eine von ihnen höflich, als sich die Reporterin anschickt, Fotos von der improvisierten Gedenkstätte für Maja und Jula zu machen.

Eine Eule aus Plüsch drückt sich in eine Mauerecke neben der Eingangstür mit den stilisierten Butzenscheiben. Der Vogel muss eine der ersten Gaben gewesen sein, die Nachbarn und andere Betroffene am Sonntag neben dem Haus abgelegt haben. Daneben sitzt ein Elch mit einer lustigen roten Zipfelmütze. Ein Bär und ein Hase, ein Pinguin und ein kleiner Löwe sind dazugekommen, eine Engelsfigur und ein Nilpferd, ein Strauß Tulpen und zwei rote Rosen, auf denen puderzarter Schnee liegt.

"Warum tut man so etwas?" Schneeflocken fallen auf das handgemalte DIN-A-4-Blatt. Zwei Stunden später ist die Schrift kaum noch zu lesen.

"Warum?"

"Warum?" steht in großen roten Lettern auf einem Pappschild, das geschützt vom Schnee an der Hauswand lehnt. Man hat ähnliche Schilder mit identischer Schrift schon bei anderen Gelegenheiten gesehen: Im schleswig-holsteinischen Dörfchen Darry, wo 2007 eine Mutter ihre fünf Kinder mit Plastiktüten erstickte. Nach dem Amoklauf in Winnenden 2009, der 16 Menschen, darunter den Täter, das Leben kostete. An der Unglückstreppe in Duisburg 2010, vor deren Stufen während der Love-Parade 21 Menschen zu Tode gedrückt wurden.

Die Schilder stammen von Timo Tasche aus Marl. Seit 2001 reist der inzwischen 33-jährige Arbeitslose quer durch Deutschland von Katastrophe zu Katastrophe, "dem Unheil hinterher". Ihn treiben, so liest man in zahlreichen Interviews mit ihm, "die Ungerechtigkeiten an, diese maßlose Gemeinheit". Spätestens am Montag muss Tasche in Opladen gewesen sein, um sein Schild aufzustellen.

Erweiterter Suizid nennen Psychologen Taten wie die von Udo L. Der Hintergrund können "krisenhaft verlaufende Trennungen sein", sagt die Kölner Rechtswissenschaftlerin Theresia Höynck. Die Tötung der Kinder ließe sich als Racheakt am Partner interpretieren. Der Psychotherapeut Christian Lüdke vermutet, der Täter fühle sich als "ewiger Versager". Daraus werde im Laufe der Jahre Wut, die sich schließlich gegen sein Umfeld richte.

Keine psychologische Hilfe

Vor der Reuschenberger Straße Nummer 3 steht an diesem Morgen ein Zivilfahrzeug der Polizei. In der Wohnung packen Kathrin L. und zwei ihrer Verwandten ein paar Koffer und Kisten und tragen sie durch den Schnee hinaus in einen Privatwagen. Kathrin L. (35) ist eine hochgewachsene, dunkelhaarige Frau mit einem verweinten Gesicht. Gegen 2.30 Uhr ist sie in der Nacht zum Sonntag nach Hause gekommen und hat sofort die Polizei informiert, als sie den Abschiedsbrief von Udo L. fand. Da waren die gemeinsamen Töchter vermutlich seit mindestens drei Stunden tot. Seit der Tat wohnt sie bei Verwandten, psychologische Hilfe soll sie abgelehnt haben.

Tränen laufen ihr über das Gesicht, während sie die Stofftiere und die brennenden Kerzen betrachtet, das Engelchen und das durchweichte DIN-A-Blatt. Eine alte Dame steht neben ihr und hält hilflos ein rotes Grablicht in der Hand. Sie hat keine Streichhölzer mitgenommen und wird das Licht später unangezündet zu den übrigen Kerzen stellen. Die beiden Frauen kennen sich nicht. Die alte Dame wohnt in der Nachbarschaft und hat aus dem Fernsehen von dem Unglück erfahren, das sich ein paar Straßen von ihrem Haus entfernt abgespielt hat. "Da dachte ich, ich bringe eine Kerze für die beiden kleinen Mädchen vorbei."

Der Blick von Kathrin L. fällt auf ein schlichtes weißes Blatt Papier. "Jula + Maja und Udo" steht darauf. "Warum???" Daneben ist ein schwarzes Kreuz gezeichnet. Kathrin L. stützt sich auf den Arm ihres Begleiters. "Der hat meine Kinder gekillt. Und jetzt steht da sein verfickter Name drauf!" Sie wendet sich ab und geht zum Auto.

"Ein freundlicher Mann"

"Man versteht es einfach nicht", sagt Ingo Müller, der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte. Müller hat blond gefärbtes Deckhaar und wohnt in der ersten Etage des Unglückshauses. Er hat bei seiner Freundin übernachtet in der Nacht zum Sonntag und erst am nächsten Tag von der Katastrophe gehört. Gerade hat er den Verwandten von Kathrin L. beim Beladen ihres Wagens geholfen. Jetzt steht er betreten vor der Haustür und sagt, was schon andere über Udo L. gesagt haben: "Er war ein freundlicher Mann, fast schon ein wenig zu freundlich." Man grüßte sich, mehr an Kontakt war noch nicht zustande gekommen zwischen Mieter und Vermietern.

An der Wohnungstür der Familie L. hängt ein Herz aus rotem Stoff. Eine kleine Kuhglocke mit einem aufgemalten Enzian ist daran befestigt. Neben der Tür steht ein Regal mit Sportschuhen. Ein schmutzig-weißes Handtuch liegt darauf, wie eilig hingeworfen nach einem eben erst beendeten Waldlauf.

"Der Mann hätte sich Hilfe holen sollen", sagt Klaus Richter (Name geändert). Eine Pudelmütze schützt ihn vor der Kälte, seine Hände in den schwarzen Lederhandschuhen umklammern den Lenker eines Alurads. Fast lautlos hat er sich herangeschoben an die Gedenkstätte für die beiden toten Kinder. Warum er hergekommen ist, obwohl er die Familie nicht kannte? "Weil ich das Bedürfnis dazu hatte. Ich bin kein Gaffer. Die waren schon vor zwei Tagen da."

Müller kennt sich aus mit Situationen, die ein Leben aus dem Tritt bringen können. Er kommt von einer Therapiestunde, der Psychologe, zu dem er seit Jahren geht, hat seine Praxis in der Nähe. "Man weiß nie, was im Kopf eines Menschen vorgeht", sagt er. "Vielleicht stand der Mann ja unter Alkohol- oder Medikamenteneinfluss." Anders sei eine solche Tat nicht zu erklären. "Vielleicht ist in seiner Kindheit was schiefgelaufen, vielleicht ist er gehänselt oder missbraucht worden."

Behutsame Gespräche

Was auch immer Udo L. bewogen habe, sich und seine Kinder umzubringen : "Das tut man nicht. Man kann selber gehen, wenn man nicht mehr mit seinem Leben klarkommt. Aber man nimmt nicht seine Kinder mit." Müller wendet sich zum Gehen. Er wünscht noch einen schönen Tag.

Günther Olbert ist derweil mit Schadensbegrenzung beschäftigt. Der Sozialpädagoge leitet die St.- Remigius-Tagesstätte in der Fürstenbergstraße. Die dreijährige Maja war hier in der Bärengruppe. Wie erklärt man drei-, vierjährigen Kindern, dass eine ihrer Spielkameradinnen gestorben ist? Dass auch die Schwester und der Papa nicht mehr leben? "Das ist so ein Ding", sagt Olbert. Am Montagmorgen haben er und die Kollegen zunächst die Eltern der Hortkinder informiert. "Wir sind sofort mit der Tür ins Haus gefallen."

Anschließend habe man mit den Kindern gesprochen, "ohne auf Details einzugehen", und Kerzen aufgestellt. Geholfen hat die behutsame Herangehensweise an das Unbegreifliche nicht. "Die Kinder haben auf RTL und anderen Sendern die Details erfahren." Inzwischen hat Olbert das Jugendamt um Krisenintervention gebeten.

In der Bärengruppe haben die Kinder Bilder für Maja gemalt: Bilder, die "freudige Gesichter und bunte Landschaften" zeigen. "Warum" steht auf keinem davon. Die Kinder in der Bärengruppe können noch nicht schreiben.

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