Nachruf auf Moritz RitterbachHalleluja auf einen ungewöhnlichen Helden

Lesezeit 9 Minuten
Familie Ritterbach

Familie Ritterbach mit Moritz (2. v. r.) (Archivbild)

Köln – Für Moritz Ritterbach unterbricht die katholische Kirche am 3. März um 11 Uhr in der Kirche St. Aposteln die Fastenzeit. Peter und Stephan Brings stimmen ihr Lied Halleluja an, die Menschen stehen auf. In der Zeit zwischen Aschermittwoch und Ostern ist das Halleluja in der katholischen Kirche seit dem 4. Jahrhundert nicht erlaubt – beim Fasten soll das Leiden und Sterben Christi im Vordergrund stehen und nicht die Lobpreisung Gottes. Aber heute soll es nicht um Moritz’ Leiden gehen.

Mehr als 500 Menschen sind zum Trauergottesdienst gekommen, neben seinen Freunden, Schulkameraden, Lehrern, FC-Kumpels und der Familie auch Oberbürgermeisterin Henriette Reker, Ex-OB Fritz Schramma, Abordnungen von Karnevalsgesellschaften, Toni Schumacher und die halbe Mannschaft des 1.FC Köln. Manche sind da, weil Moritz der Sohn von Markus Ritterbach ist, des erfolgreichen Unternehmers, langjährigen Präsidenten des Festkomitees Kölner Karneval, Vizepräsidenten des 1. FC Köln.

Die meisten sind gekommen, weil Moritz ihnen gezeigt hat, was eigentlich wichtig ist. Sie wollen sein unwahrscheinliches, eigentlich hollywoodreifes Leben feiern – das Leben eines Menschen, der allen Grund zum Leiden hatte und sich weigerte, zu leiden. Der – wer kann das von sich sagen? – wie selbstverständlich für andere da war, dankbar und demütig lebte, im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche sah, das Glück immer wieder im Jetzt fand.

Alles zum Thema Henriette Reker

Also singen Brings „Halleluja“ und „Liebe gewinnt“, also lässt die Band Cat Ballou für Moritz noch mal einige Minuten die Welt stillstehen.

Moritz Ritterbach fehlt ein Klebstoff, der seine Zellen zusammenhält, das Protein Fibrillin, das die Entwicklung von Knochen und Muskeln steuert. Loeys-Dietz-Syndrom heißt der seltene Gendefekt, der sich an seinen deformierten Füßen (Schuhgröße 44 und 39) und seiner verkrümmten Wirbelsäule zeigt, an seinen weit auseinander liegenden Augen, seiner Trichterbrust und der hell durchscheinenden Haut, die voller Operationsnarben ist. Trotzdem, vielleicht auch gerade deswegen ist Moritz „ein Klebstoff, der unsere Familie zusammengehalten hat, und auch viele Freunde“, sagt seine Mutter Barbara.

Schwere Herz-Operation überstanden

Jederzeit kann seine Aorta reißen, trotz einer schweren wie erfolgreichen Herz-Operation 2014, vor der Moritz dem Herzspezialisten sagt, „meine Mutter macht sich solche Sorgen, das tut mir so leid“. Einen Tag nach der Entlassung wird Deutschland Fußball-Weltmeister. Moritz lacht über beide Backen, umarmt und küsst die Brüder, Vater und Mutter. Auf jedem Foto dieses Lachen, auf vielen eine große körperliche Nähe. „Es war normal, uns vor dem Schlafengehen einen Kuss zu geben, und umarmt haben wir uns ständig“, sagt sein Zwillingsbruder Felix. „Bis ich zwölf oder dreizehn war, bin ich abends zu Moritz ins Bett gekrochen, weil ich immer Angst hatte, allein zu schlafen.“ Na gut, aber leg dich auf die andere Seite, habe Moritz gesagt. „Irgendwann bin ich dann meistens zu ihm rübergerollt, weil ich immer noch Angst hatte.“

Der gesunde Felix ist der ängstliche, der immer mal wieder über Schmerzen klagt. Moritz verdrängt Angst und Gefahr lieber, aber er weiß um sie. Sorgsam lebt er, mit großer Klarheit und ausgeprägtem Ordnungssinn, manchmal stur, immer gerecht. In seinem Zimmer liegt kein Staubkorn auf dem Regal, nie vergisst er, sein Bett zu machen. Wenn einer der Brüder den Klodeckel nicht zuklappt, bekommt er einen Rüffel. Moritz kennt jede Versicherung der Eltern, er bekommt das Haushaltsgeld, wenn sie mal weg sind, er bestimmt, wer abwäscht und abtrocknet; auf der Berufsschule ist er Klassensprecher, er bucht die Fähre und die Airbnb-Wohnung für den Europacup-Trip nach London, zum Spiel seines FC gegen Arsenal, er schenkt einem Kumpel, den er zufällig beim Fan-Marsch trifft, seinen Schal, weil der ihn – da ohne Karte für den Gästeblock – im Hotel gelassen hat. Für seine Freunde kauft er, wenn am Wochenende sturmfrei ist, reichlich Chips und Bier, morgens steht er als erster auf und macht Frühstück.

Statt mit düsterer Miene lebt Moritz hell und mutig. Materiell fehlt es ihm und seiner Familie an nichts – trotzdem freut er sich diebisch über das Sockenzielwerfen mit seinem jüngeren Bruder Beni, die Tatort-Abende mit seiner Mutter, die Fußball-Abende mit seinen Freunden, das Karnevalsfeiern im Unkelbach, die Umarmungen seines Vaters, den abendlichen Kuss auf die Stirn von Felix, jedes noch so mittelmäßige Spiel seines 1. FC Köln. Auch darüber, sein Abitur zu bestehen – unter ständigen Schmerzen, er lernt fast nur im Liegen. Nach dem Abi folgt eine schwere Rücken-Operation, so getimt, dass Moritz im September mit seiner Lehre bei der Kreissparkasse beginnen kann.

Es lässt sich googeln, was sein Gendefekt bedeutet: Moritz sollte keine Kinder zeugen, da die Krankheit vererbt wird, seine Lebenserwartung ist geringer, deutlich geringer, die Hauptschlagader porös. Die Mutter beschäftigt sich eine Zeit lang viel mit der Krankheit und liest alles darüber, der Vater regelt, was sich eben regeln lässt, Beni spielt einfach mit Moritz, Felix spielt die Gefahr von Operationen herunter und versucht seinen Zwillingsbruder in schweren Phasen zum Lachen zu bringen. Er habe sich immer wieder gefragt, ob er lieber einen gesunden Zwillingsbruder gehabt hätte, sagt Felix, und habe sich dann immer gleich die nächste Frage gestellt: „Wäre er dann genauso geworden?“

Moritz beschäftigt sich möglichst nicht mit seiner Krankheit. Er hat nur im Hinterkopf, dass er womöglich bald wieder ins Krankenhaus muss. In seinem unbändigen Lachen und Glück-im-Moment-finden ist er ein Kind, in seiner Demut und Selbstlosigkeit ein Alter. In der Suche nach Genuss und Harmonie jung – nie, wirklich nie aggressiv, sagen die Eltern – im Sinn für Ordnung alt. Früh erwachsen ist er, und lieber Kind.

„Moritz war dankbar und glücklich“

„Moritz hat uns beigebracht, auch unter Tränen zu lachen“, sagt  Felix in St. Aposteln. „Moritz war dankbar, zufrieden und glücklich mit dem, was er hatte. Und nicht traurig darüber, was er nicht hatte. Dadurch hat Moritz ungebändigt und unaufhaltsam in jedem Augenblick des Lebens das Glück gesucht. Und er hat es immer gefunden. Du hast das Leben geliebt und uns gelehrt, das Leben zu lieben. Neben der Dankbarkeit habe ich mit Moritz’ Hilfe verstanden, was es bedeutet, gütig zu sein. Moritz hätte aufgrund seiner Krankheit so viele Gründe gehabt, zu hadern. Doch er hat sein eigenes Leid vergessen, um uns anderen zu helfen und uns glücklich zu machen.“

Das könnte Sie auch interessieren:

„Für mich war Moritz nicht nur Bruder, sondern auch bester Freund, Vorbild, Idol“, sagt Beni.

Direkt nach der Geburt muss Moritz wegen eines dreifachen Leistenbruchs operiert werden. Er ist kaum neun Monate alt, da wird er mit dem Verdacht auf Sichelfuß operiert. Die Ärzte ahnen, dass er nicht ganz gesund sein könnte, doch der Junge entwickelt sich relativ normal. Er kann nicht so schnell laufen wie Felix und nicht so gut klettern, also läuft er langsamer, also hilft Felix Moritz mit einer Räuberleiter, den Apfelbaum zu erklimmen. Als ein Mitschüler beim Schwimmunterricht in der Grundschule fragt, warum sein Brustkorb so eingedellt sei, entdeckt Felix seinen Beschützerinstinkt, blafft den Jungen an und sagt zu Moritz: „Mit dem reden wir erstmal nicht mehr.“

Moritz merkt, dass er anders ist, an scheuen Blicken, Arztbesuchen und Operationen. Seine Mitschüler merken auch deswegen, dass Moritz anders ist, weil er nie unfair ist, weder gemein noch brutal sein kann. Er schlichtet Streit, organisiert Feste, kümmert sich um seine Großeltern wie um den kleinen Bruder Beni, dessen Zimmer er nach dessen Abi-Prüfung mit einem Fußball, Panini-Stickern und Süßigkeiten schmückt, den er weckt, wenn er auf der Fahrt zur Uni im Zug mal wieder einschläft.

Das Leben im Angesicht des Todes ist ein Lehrmeister. Wenn Menschen jung und gesund sind, leben sie, als stürben sie nie, die meisten begreifen erst, wenn sie krank und alt werden, wie kostbar Gesundheit ist, wie wichtig auch Demut vor dem Leben. „Moritz war in seiner Art zu leben sehr weise“, sagt sein Vater. „Er hat uns gelehrt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.“

Am Abend des 21. Februar gucken Markus und Moritz zusammen Fernsehen, „The Killing“ heißt die Serie. Es geht um eine Familie mit drei Kindern, eine Tochter wird ermordet. Die Familie muss lernen, ohne ihr Kind zu leben und zerbricht fast daran. Moritz spricht mit seinem Vater darüber, wie ihr eigener Sarg denn aussehen sollte, wenn es irgendwann so weit wäre. Sie sind sich einig: Schlicht sollte er sein. Einen Anlass für die Frage gibt es nicht, zuletzt läuft es fast unglaublich gut. Zwei Jahre muss Moritz nicht operiert werden. „Nach den schweren OPs 2013 und 2014 an Rücken und Herz dachten wir, wir haben es erstmal geschafft“, sagt Markus Ritterbach. – „Ich habe das nicht gedacht, höchstens gehofft“, sagt seine Frau. – „Aber es war eine unbeschwerte Zeit, wie wir sie kaum kannten.“ – „Stimmt, und wir haben immer gehofft, dass es noch eine Weile so bleibt.“ Die Eltern reden über ihre Ängste, ihr Gefühl, mit ihren Sorgen allein da zu stehen, ihre Dankbarkeit für Pfleger und Ärzte, die sagten, wie „pflegeleicht“ und tapfer Moritz sei. „Er hat uns immer wieder daran erinnert, dass wir es sind, die leiden. Er war nicht das Sorgenkind, ganz im Gegenteil“, sagt der Vater.

An Weiberfastnacht 2018 feiert Moritz als „löstiger Kapitän“ mit Freunden im Unkelbach. Er trinkt Bier, tanzt, singt „Halleluja“ und „Liebe gewinnt“, die Welt steht still. Am Freitag spürt er Druck auf der Brust, eine Erkältung, denkt er, aber es wird nicht besser. Die Familie fährt in die Notaufnahme in die Porzer Klinik, Pneumothorax, lautet die Diagnose, am Rosenmontag wird er zur Operation nach Siegburg gebracht, der geplante Urlaub in Dubai wird storniert. Die Operation am Veilchendienstag verläuft gut, am Aschermittwoch isst Moritz lachend Leberkäse, „es geht mir wieder gut“, sagt er in eine Kamera. Er ärgert sich nur, dass er seine BWL-Klausuren verpasst hat, es werde ihn ein Semester kosten. Als Ausgleich für den Urlaub überlegen die Eltern, mit Moritz zum FC-Spiel nach Leipzig am 25. Februar zu fahren. Am Morgen des 22. Februar hört Beni seinen Bruder aus der Dusche rufen. Er habe Schmerzen in Rücken und Brust, sagt Moritz. Beni ruft den Notarzt und hilft Moritz beim Anziehen. Vater Markus, der vom Sport kommt, und Beni fahren dem Rettungswagen hinterher. „Warum bin ich nicht mit in den Rettungswagen gestiegen und habe seine Hand gehalten?“ Die Frage treibt den Vater seitdem um.

Moritz’ Aorta ist gerissen. Er stirbt kurz nach einer achtstündigen Operation. Zehn Tage später liegt Moritz, geschützt von einer FC-Decke, aufgebahrt in einem schlichten Sarg in St. Aposteln. Ein Halleluja auf sein Leben, mitten in der Fastenzeit, es hätte ihn laut lachen lassen.

Wir erinnern in unserer Serie an verstorbene Kölner

In unserer Serie Nachrufe erinnern wir an Kölner, die in jüngerer Vergangenheit verstorben sind. Wenn Sie vom Tod eines interessanten Kölners erfahren, über den wir einen Nachruf schreiben können, melden Sie sich bitte bei uns unter 02 21/2 24-23 23 oder koeln@ksta.de.

Bei den Geschichten geht es nicht darum, ob ein Mensch prominent war oder unbekannt, erfolgreich oder verarmt. Es sollen Lebensläufe mit ihren Höhen und Tiefen beschrieben werden. Getreu dem Gedanken: Jeder Mensch hat etwas zu erzählen. Jedes Menschenleben ist einzigartig.

KStA abonnieren