Ruhe nach der WeltkarriereEin Besuch beim Starregisseur Willy Decker in Eckenhagen

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Willy Decker vor seinem Porträt, gemalt von Janina Brügel

Eckenhagen – Eine Uhr geht um die Welt. Selten zuvor wuchs einem Bühnenelement eine derart schlagende ikonisch-zitatträchtige Qualität zu wie dem riesigen Chronometer, mit dem der Regisseur 2005 die „Traviata“-Neuinszenierung im Salzburger Festspielhaus ausstattete. Die Uhr als das Symbol der Zeit – genauer: der unter der Schwindsucht gnadenlos ablaufenden Lebenszeit der (hier von Anna Netrebko dargestellten) Titelgestalt Violetta: Hier wurde eine lapidar durchschlagende Idee mit kaum überbietbarem sinnlichen Nachdruck ins Bewusstsein des Zuschauers gepresst.

Soeben hat der „Kölner Stadt-Anzeiger“ besagten Regisseur dieser international gefeierten Produktion besucht – nicht etwa in München oder Monaco oder Malibu, sondern im oberbergischen Eckenhagen, wo Willy Decker seit nun fast zehn Jahren lebt – zusammen mit seinem ältesten Freund, einem seiner „Lebensmenschen“, in einer „Alte-Männer-WG“. „Die Salzburger Uhr“, erzählt Decker beim Capuccino, „bezeichnete auch ein Stück weit meine eigene Urangst als Regisseur: die Angst, nicht fertig zu werden, und den dadurch erzeugten Druck.“

Terror der Zeit

Es war auch dieser „Terror der Zeit“, der Decker dann in eine schwere Existenzkrise stürzte: Ein Jahr nach der „Traviata“ musste er seine Arbeit an einem Wiener „Idomeneo“ abbrechen – „und das nicht nur, weil ich mit dem Stück nicht zurechtkam“. Nein, „das war ein regelrechter Burnout“. 2014 kam dann das definitive Ende der Theaterlaufbahn des heute 70-jährigen: „Meine Ex-Frau war gerade gestorben, und ich fuhr nach Zürich, um «The Turn of the Screw» zu inszenieren. Aber nach zehn Tagen konnte ich nicht mehr vor Trauer und Erschöpfung.“ Da kam die Entscheidung : „Jetzt ist Schluss.“

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Der Umzug aus einem (zu klein gewordenen) Bauernhaus in einem kleinen Eifeldorf am Nürburgring nach Eckenhagen lag somit zwischen diesen beiden Krisenpunkten. Decker erwarb hier in einer ruhigen Stichstraße außerhalb des Ortszentrums ein geräumiges ehemaliges Pfarrhaus, 1913 im Jugendstil erbaut. Drei weiträumige, lichtdurchflutete Etagen mit hohen Zimmerdecken und Holzdielenböden, ein großer Garten auf riesigem Grundstück, über das der Blick in den nahen Wald geht – ist das die ideale Umgebung, um seelisch und körperlich gesund zu werden?

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„Ja“, sagt Decker, „ich wusste sofort: Das ist es, hier bleibe ich für den Rest meines Lebens.“ Aber ist es kurz vor der Grenze zum Sauerland für einen urban geprägten Intellektuellen nicht doch vielleicht etwas zu still und zu abgeschieden? Die Stille brauchte Decker freilich immer schon – „wenn ich mit einer Konzeption am Schreibtisch nicht weiterkam, bin ich mit einem Diktiergerät in den Wald gegangen.“ Und als abgeschieden empfindet er das Oberbergische nicht: „Ich bin mit dem Wagen in 35 Minuten am Kreuz Köln-Ost, zehn Minuten später in der Philharmonie. Diese Nähe brauche ich auch.“ Die Philharmonie kann Decker zu ihren regelmäßigen Besuchern zählen – jetzt, in der Pandemie, selbstredend nicht, worunter auch der Regisseur leidet.

Lebensbogen um Köln geschlagen

Eifel und Eckenhagen – tatsächlich schlägt sich Deckers Lebensbogen um die (ausgesparte) Metropole am Rhein herum. Das ist kein Zufall, denn der in Pulheim Geborene ist durch und durch – man hört es sofort am singenden Tonfall – ein Kölner Gewächs. In Köln studierte er an der Uni (Theater- und Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie) und der Musikhochschule (Gesang bei Josef Metternich). Und an der dortigen Oper startete er in der Ära Hampe als Oberspielleiter eine Laufbahn als Opernregisseur, die ihn schließlich weit über seine (vor dem Eifelumzug von ihm auch bewohnte Heimatstadt hinaustragen sollte: an die New Yorker Met, die Wiener Staatsoper, Covent Garden und die Pariser Oper (in Frankreich wurde Decker der Ehrentitel „Chevalier des Arts et des Lettres“ verliehen). Ältere Kölner Opernbesucher dürften sich noch gut an seine hiesigen Produktionen – „ein Stück pro Saison“ – erinnern, an einen „ Zar und Zimmermann“, einen „Fliegenden Holländer“, einen „Billy Budd“, einen „Eugen Onegin“.

Immer zu spät gewesen

Auch die beiden jüngsten Kölner Opernintendanten – Uwe Eric Laufenberg und Birgit Meyer – versuchten verschiedentlich, Decker zu einer Heimkehr als Gast zu bewegen: „Die waren aber immer zu spät dran – ich war da immer schon ausgebucht.“ An Michael Hampe hat Decker heute noch eine gute Erinnerung: „Ich bin dankbar dafür, wie er mich gefördert hat – wenn mir sein eigener konservativer Regiestil auch Neues nicht erschlossen hat.“

Als Assistent gelernt habe er damals von zwei anderen Vertretern des Metiers: Hans Neugebauer und Harry Kupfer: „Bei Neugebauer konnte man große sinnliche Radikalität und Aufgeschlossenheit für neues Sehen mitbekommen, Kupfer war genial in der Technik der Chorführung.“ Kupfer vertrat zudem ein Anliegen, das bis in die Formulierung hinein Deckers eigenes ist: „Wir müssen den Entwurf des Menschen auf der Bühne verteidigen.“

Was so viel heißt wie: Geschichte, Politik und Kritik sind wichtig, aber im Zentrum „kommt es darauf an, Menschen im Theater so hinzustellen, dass der Zuschauer sagen kann: Tua res agitur – es ist deine Sache, die da verhandelt wird.“ Von Opern wie „Lohengrin“, „Idomeneo“ oder „The Turn of the Screw“ , in denen Übersinnliches eine realistische Psychologie ablöst, lässt Decker nach eigenem Bekunden deshalb auch lieber die Finger.

Schöne und schreckliche Erlebnisse

Ein ganzes Buch könnte er – dieser Eindruck stellt sich beim Zuhören schnell ein – über seine schönen und desaströsen Erlebnisse mit Dirigenten und Sängern schreiben. Nach wie vor begeistert ist er von der Salzburger Zusammenarbeit mit Anna Netrebko: „Sie war einfach wunderbar, hat sich in Wien beim Frühstück im Hotel mein Konzept schweigend angehört und sich dann vorbehaltlos da hineinfallen lassen.“ Und auf triviale Fragen wie der nach Gemeinsamkeiten zwischen ihr und ihrer Rolle habe sie mit entwaffnender Nicht-Intellektualität geantwortet: „Es gibt keine.“

Unter den Dirigenten machte Kirill Petrenko – damals war er noch nicht Chef der Berliner Philharmoniker – einen besonders starken Eindruck: „Ich konnte für den «Tristan» bei der Ruhr-Triennale kein absolutes Spitzenorchester engagieren. Aber Petrenko hat aus den Duisburger Symphonikern nach wenigen Stunden eines gemacht. Das Vorspiel zum ersten Akt, diese gedehnte Pause, dieses Stehenlassen nach den ersten Takten – das hatte ich noch nie so gehört.“

Die Ruhrtriennale, deren Intendant Decker von 2011 bis 2013 auf Drängen seines Vorgängers und „Mit-Kölners“ Jürgen Flimm war, markierte mit gefeierten Opernproduktionen (zumal „Tristan“ und „Moses und Aaron“) noch einmal Höhepunkte in Deckers Karriereherbst: „Das war eine ganz neue Herausforderung: Wie fülle ich in diesen Fabrikhallen den Raum? Mit Guckkastentheater und einem Fixpunkt in der sechsten Reihe kam man da nicht weiter.“ Deckers Lösung: Die Entstehung, die Erschaffung von Raum wurde ihrerseits zu einem zentralen Moment der Inszenierung.

Eine Treppe zertrümmert

So oder so war Opernregie für ihn immer wieder eine praktische, mit vielen Widerständen verbundene Qual. Eine Episode, die er erzählt, beleuchtet dies anschaulich: „Wir machten mit Semyon Bychkov «Salome» für Hamburg. Das Bühnenbild stand schon als Modell, löste aber bei meinem Bühnenbildner Wolfgang Gussmann und mir ein diffuses Unbehagen aus. Wir wussten: Nein, das ist es nicht.“ Decker zertrümmerte dann in einem spontanen Wutanfall das Modell, das eine Treppe darstellte: „Die Treppe zerbarst – und ich hatte mein Bühnenbild.“

All diese Erfahrungen ließen Decker, der heute noch eine Honorarprofessur in Hamburg für Bühnenregie innehat, schließlich Abschied von der Oper nehmen – dies ein Entschluss, den er bis heute nicht bereut hat: „Ich habe abgeschlossen, habe alles erreicht, was man erreichen kann; es gibt keine offenen Fragen mehr.“

Neue Heimat im Zen-Buddhismus

Tatsächlich wirkt der Regisseur auch auf den Gast, der ihn in seinem mit Bücherregalen gefüllten Haus besucht, wie jemand, der mit sich im Reinen ist. Für einen erfüllten Tagesablauf sorgen nicht zuletzt die ausgedehnten Meditationen in einem für sie eigens hergerichteten Raum. Im Zuge seiner Lebenskrisen fand Decker nämlich zum Zen-Buddhismus. Sozialisiert im rheinischen Katholizismus hat er, der zwischenzeitliche Agnostiker, im Buddhismus eine neue spirituelle Heimat gefunden.

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