KolumneDie Aprilfrage: Wie zieht man sich jetzt an?

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Ein altmodisches Barometer zeigt auf Englisch Luftdruck und Wetterlage an.

Ein altmodisches Barometer zeigt auf Englisch Luftdruck und Wetterlage an.

Die Kölner Schriftstellerin Husch Josten sinniert in ihren „Gedankenspielen“ über milde Brisen, Sturmwarnungen und die Großwetterlage.

Der April, der April… Genau: Er macht, was er will. Sturmgewappnet in Daunen, optimistisch im Trägerkleid, variabler Zwiebellook oder regenfest in Ganzkörperhülle – die Unentschlossenheit des Aprilwetters zeitigt Bekleidungsfolgen, deren verräterische Tragweite sich morgens vor dem Schrank vermutlich keine Europäerin und kein Europäer so richtig bewusst macht. Aber Kleider machen Leute. Das weiß jeder.

Und so erscheint es nur folgerichtig, dass die Entscheidung zwischen Stiefeln und Sandalen im Monat der Unwägbarkeit Rückschlüsse auf die Ängstlichkeit oder Krisenfestigkeit ihrer Trägerinnen und Träger zulässt. Sie erlaubt sogar die gewagte These, dass die Wahl zwischen Poncho, Polo oder Pelerine mit Politik zu tun hat.

Husch Josten

Husch Josten

Aber eins nach dem anderen. Hier muss ein großer Philosoph zur Hilfe eilen: Baruch de Spinoza (1632 bis 1677). Der Niederländer war ein Meister freiheitlichen politischen und intellektuellen Denkens, den man heute einen „offenen Menschen“ nennen würde. Die lapidare Zuschreibung würde diesem mutigen Vordenker zwar nicht ganz gerecht. Sie passt aber zum April, der seinen Namen nicht ohne Grund trägt. Das lateinische aperire bedeutet „öffnen“: Die Natur erwacht aus dem Winterschlaf, Knospen erblühen, alles ist im Übergang. Genauso, wie es derzeit die ganze Welt ist. 2024 ist ein globales Superwahljahr: von den Staaten der Europäischen Union und Großbritannien über Indien und die USA bis zu Mexiko oder Taiwan.

1670 stellte Spinoza in der Vorrede seines „Tractatus Theologico-Politicus“ heraus: „Wenn die Menschen alle ihre Angelegenheiten nach bestimmtem Plane zu führen im Stande wären oder wenn sich das Glück ihnen allzeit günstig erwiese, so stünden sie nicht im Banne eines Aberglaubens. Weil sie aber oft in solche Verlegenheiten geraten, dass sie sich gar keinen Rat wissen, und weil sie meistens bei ihrem maßlosen Streben nach ungewissen Glücksgütern kläglich zwischen Furcht und Hoffnung schwanken, ist ihr Sinn in der Regel sehr dazu geneigt, alles Beliebige zu glauben.“

Viele schwanken zwischen Furcht und Hoffnung.
Husch Josten

Spinoza meinte die Religionen, zu deren Personal auch Petrus als Wettergott guten Gewissens gezählt werden darf. Doch Spinozas Worte lassen sich ohne Weiteres auf den Zustand der Welt übertragen: Wenn vieles unsicher und unzuverlässig erscheint; wenn die Großwetterlage wechselhaft bis stürmisch ist; wenn man am ehesten von einem lang andauernden Tief sprechen möchte und sich je nach Gemüt mal optimistischer, mal pessimistischer darin bewegt – dann schwanken viele zwischen Furcht und Hoffnung.

Und sie geraten in Versuchung, alles Mögliche zu glauben. Fake News beispielsweise. Fatalistische Phrasen (dass sowieso nichts mehr zu retten ist), schicksalsergebene Ausreden (dass man allein gegen die Großen da oben nichts ausrichten kann) oder, am gefährlichsten, irrige Annahmen wie diese: dass ja nicht alles falsch sei, was die Extremisten sagen.

Doch. Ist es. Wer Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und die so bereichernde wie notwendige Vielfalt innerhalb der Gesellschaft in Frage stellt, liegt ganz grundsätzlich und vollkommen falsch. Und dagegen kann man nicht nur, dagegen muss man etwas tun.

Der nächste große Wetterumschwung im europäischen Raum könnte im Juni heranbrausen.
Husch Josten

Der nächste große Wetterumschwung im europäischen Raum könnte im kommenden Juni heranbrausen, wenn die Wahlen zum Europäischen Parlament anstehen. Die Vorhersagen warnen vor einem „Rechtsruck historischen Ausmaßes“. Sicher ist: Von diesen Wahlen wird das Signal ausgehen, ob es Parteien der demokratischen Mitte oder ganz andere sein werden, die in Zukunft die Entwicklung der EU bestimmen.

Sie werden zeigen, ob 70 Jahre Frieden, Freiheit, offene Grenzen und Wohlstand die Wertschätzung erfahren, die sie verdienen, oder ob diese Errungenschaften in einen Orkan geraten, für den man sich sehr, sehr warm anziehen müsste. An diesen Wahlen wird auch abzuschätzen sein, welche Kraft extremistische Parteien inzwischen entwickelt haben und wie sie bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg abschneiden könnten.

Die Aprilfrage lautet also auch hier: Wie zieht man sich jetzt an? Funktionswäsche mit Sportsgeist? Daunen gegen Sturmböen? Luftig in Erwartung milder Brisen? Wasserdicht, damit alles abprallt? Oder in mehreren Schichten, um – zwischen Hoffnung und Furcht schwankend – abzuwarten, was kommt? Gewiss: Je nach Neigung, Möglichkeiten und Verfassung. Richtig gut wäre es allerdings, bei der Wahl der Garderobe für die kommenden Monate – einer Garderobe, die sogar dann etwas über ihre Träger verrät, wenn diese keinen Wert auf sie legen – die Prognosen ernst zu nehmen.

Wer ermisst, was von oben herunterkommen und wie es alle erwischen kann, ob es verbreitet sonnig oder alles verhagelt wird, der wird nicht - wovor schon Spinoza warnte – beliebig wählen, was er sich anzieht. Der Philosoph trug übrigens etwas sehr Besonderes: Einen Ring, in dessen Innenseite „caute“ eingraviert war. Sei vorsichtig.

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