Aufruf zur Solidarität mit IsraelKölner Politologe Leggewie zum Nahostkonflikt: „Jedes ‚Ja aber‘ ist im Moment daneben“

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Bei einer Gedenkveranstaltung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft für die Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober leuchten Kerzen in Form eines David-Sterns und des Datums des Angriffs der Hamas-Terroristen in Israel.

Gedenkveranstaltung in Berlin für die Opfer des Hamas-Angriffs auf Israel am 7. Oktober

Der Politologe Claus Leggewie erklärt den Unterschied zwischen Israel-Kritik und Antisemitismus.

Herr Professor Leggewie, Sie sind Politologe. Erklären Sie doch mal, was es mit der „deutschen Staatsräson“ im Blick auf Israel auf sich hat.

Kanzlerin Angela Merkel wollte damit im Jahr 2008, zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel, die aus dem Holocaust erwachsene besondere Verantwortung für dieses Land herausstreichen. Sie hat sich damals weit herausgewagt und einen Pflock eingerammt.

Mit Staatsräson als Synonym für „bedingungslose Solidarität“?

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Staatsräson ist ein altmodischer, bewusst vage gehaltener Begriff, der symbolisch Gewicht auf die politische Waagschale bringen soll. Er kommt aus einer eher autoritären Staatsauffassung, wonach staatliche Interessen im Zweifel die Interessen der Bürger überwiegen. Merkel und nun auch ihr Nachfolger Olaf Scholz wollten ausdrücken, dass es breiter Konsens sein muss, an der Seite Israels zu stehen.

Problematisch ist die religiöse Überhöhung der Landnahme.
Professor Claus Leggewie

Und was folgt daraus?

Wie das mit solchen Ansagen ist: nicht viel. Jedenfalls keine militärische Beistandspflicht. Die war aber auch nie intendiert. Zudem wird die „Staatsräson“ keineswegs von allen geteilt. Linke wie rechte „Antizionisten“ stimmen dem nicht zu.

Weil sie den Zionismus als politisches Programm in Frage stellen?

Der Zionismus, der Ende des 19. Jahrhunderts entstand, war eine plausible Reaktion auch auf die Erfahrung des versuchten Völkermords an den europäischen Juden. Problematisch daran ist die religiöse Überhöhung der Landnahme. Über die Frage, wem dieses oder jenes Territorium gehören soll, lässt sich politisch immer reden. Wenn der Landbesitz aber „heilige Pflicht“ ist, dann wird der Streit um ein bestimmtes Territorium zum unlösbaren Konflikt. Die religiösen Extremisten auf israelischer wie auf arabischer Seite haben die zivilen Regierungen immer stärker unter Druck gesetzt und eine Zwei-Staaten-Lösung im Nahost-Konflikt faktisch unmöglich gemacht.

Dann muss der Protest gegen die Politik der religiös-nationalistischen dominierten Regierung in Israel doch erlaubt und legitim sein.

Im Prinzip schon. Aber nach dem Angriff vom 7. Oktober weiß ich nicht, welchen Sinn das im Moment haben sollte – außer israel-feindlichem Ressentiment. Vieles, was an der israelischen Politik zu Recht kritisiert wird, läuft unter der Rubrik „Antizionismus“, verstanden als illegale Landnahme. Zeithistorisch ist nicht zu bestreiten, dass die Gründung des Staates Israel mit einer Landnahme palästinensischen Gebiets verbunden war, die koloniale Züge hatte und zu schlimmen Vertreibungen führte. Aber man kann die Geschichte nicht zurückdrehen, weil man damit dem Staat die Israel die Existenzberechtigung abspricht. Große Teile der BDS-Bewegung betreiben diese Camouflage. Und die Hamas leitet daraus völkermörderische Methoden ab. Es einfach unwahr, den Terror der Hamas heute als Folge der historischen Ereignisse von 1947/48 hinzustellen. „Das kommt davon“ ist ein zynisches Spiel mit der Geschichte.

Der Terror vom 7. Oktober ist durch rein gar nichts zu rechtfertigen.
Politologe Claus Leggewie

Muss man die Geschehnisse seit dem 7. Oktober aber nicht doch im – wie es heute gern heißt -  „Kontext“ eines jahrzehntelangen Konflikts sehen?

Der Terror vom 7. Oktober ist durch rein gar nichts zu rechtfertigen. Wenn Hamas-Versteher das nicht kapieren wollen, leben sie in anderen Welten. Es gibt kein einziges Ereignis in der Auseinandersetzung zwischen Juden und Arabern der letzten Jahrzehnte, der diesen barbarischen Ausbruch der Gewalt und des Hasses „kontextualisiert“. Angesichts des genozidalen Pogroms, mit dem die Hamas ihre erklärte Mission ins Werk setzte, Juden zu töten, weil sie Juden sind, gibt es auch keine „Ja, aber“-Aufrechnung nach dem Motto: „Was hat Israel denn im Gazastreifen angestellt?“

Jedes „Ja, aber“ ist im Moment daneben. Und wer sein Herz sprechen lässt, der beschäftigt sich in diesem Moment nicht mit den problematischen Seiten Zionismus, sondern steht an der Seite von existenziell bedrohten Jüdinnen und Juden. Ich finde übrigens nicht, dass das Einstehen für die Existenz Israels und die Sicherheit jüdischer Menschen etwas ist, was speziell aus der deutschen Vergangenheit folgt.

Warum nicht?

Anderen Staaten müsste das gleichermaßen ein Anliegen sein. Erklärtes Ziel in der Charta der Hamas ist die Vernichtung des Judentums weltweit. Schon deshalb ist die Weltgemeinschaft als Ganzes betroffen. Auch der Holocaust als Menschheitsverbrechen geht alle an. Die Gründung des Staates Israel war eine Form, die Beteuerung „nie wieder!“ politisch einzulösen, und somit folgt die Solidarität mit Israel heute moralisch aus einer historischen Verantwortung nicht nur der Deutschen, deren besondere Rolle ich damit aber in keiner Weise bestreite.

Kriegsverbrechen der israelischen Armee wären nicht hinnehmbar. Nur ist dieser Punkt in keiner Weise erreicht.
Professor Claus Leggewie

Was ist eigentlich – ganz generell - legitime Israel-Kritik, was israelbezogener Antisemitismus? Und wie unterscheidet man das eine vom anderen?

Legitim ist Kritik an der langjährigen, rechtswidrigen Siedlungspolitik der israelischen Regierung. Legitim ist Kritik an der Schlechterstellung arabischer Bürger, die einem ethnisch-identitären Begriff des Staatsvolks entspringt. Legitim ist auch die Kritik an der versuchten Außerkraftsetzung der Gewaltenteilung und anderen demokratie-gefährdenden Maßnahmen der ultrarechten Regierung Netanjahu. Diese Kritik wird auch von vielen Israelis geteilt. Illegitim aber ist jede Kritik, die diese oder andere Phänomene auf einen angeblichen jüdischen Volkscharakter zurückführt, nach dem Motto: So sind sie, die Juden. Rassistischer Antisemitismus liegt vor, wenn man nicht mehr darauf abhebt, was Juden tun, sondern wie sie angeblich wesensmäßig sind.

Gibt es politisch eine Grenze der „unbedingten Solidarität“ mit Israel?

Aber sicher. Kriegsverbrechen der israelischen Armee wären nicht hinnehmbar. Wenn der eine Völkermord mit einem anderen beantwortet würde, hieße auch das: Ende der Solidarität. US-Außenminister Antony Blinken, der selbst ein säkularer Jude ist, sagt das ja auch in aller Deutlichkeit. Nur ist dieser Punkt in keiner Weise erreicht.

Auch nicht, wenn im Gazastreifen Wohngebiete oder Krankenhäuser bombardiert werden?

Die Schuld daran trägt doch die Hamas, nicht die israelische Armee. Wer seine Raketenabschussrampen um ein Flüchtlingslager mit Tausenden Kindern herum postiert, kalkuliert mit deren Tod – und mit den Bildern toter Kinder.

Die Hamas steht nicht für die palästinensische Sache.
Professor Claus Leggewie

Wenn Sie sagen, man solle „sein Herz sprechen“ lassen – was ist dann mit dem Herz für die Menschen im Gazastreifen?

Sie verdienen unser Mitleid als Opfer, die – wie eben gesagt - gleich doppelt betroffen sind: als Ziele israelischer Angriffe und als menschliche Schutzschilde der Hamas. Ich finde es sehr bewegend, dass gerade die Angehörigen von Hamas-Opfern in Israel die eigene Führung zur Mäßigung aufrufen und die blutige Eskalation unterbrochen wissen wollen, die in die allgemeine Barbarei führt. Da tritt mitten in diesem grauenvollen Konflikt die Menschlichkeit hervor.

Die dann aber wieder hinter die Sicherheitsinteressen Israels zurücktreten muss?

Nein. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass die israelische Armee ihre Bombardements unvermindert fortsetzen soll. Es braucht eine Feuerpause. Aber sie muss mit den Nachbarstaaten Israels abgestimmt sein, damit diese Druck auf die Hamas ausüben. Die Hamas darf eine etwaige Unterbrechung der Angriffe nicht dazu nutzen, neuen Terror zu organisieren, und sie darf die eigene Zivilbevölkerung nicht weiter als Geiseln nehmen. Noch sind Kinder, Frauen und alte Menschen der stärkste Trumpf der Hamas gegen die Angriffe der israelischen Armee – und jedes tote Kind wird zum Argument gegen die „Zionisten“. Wer solidarisch mit den Palästinensern sein will, muss als Erstes auf Abstand zur Hamas gehen. Die Hamas steht nicht für die palästinensische Sache, sondern sie hat das palästinensische Volk an den Rand des Abgrunds gebracht.

Es treibt mir die Schamröte ins Gesicht.
Claus Leggewie

Wie weit darf Solidarität mit den Palästinensern im Rahmen der Demonstrations- und Meinungsfreiheit gehen?

Auf keinen Fall so weit, dass Genozid gerechtfertigt wird, Antisemitismus artikuliert und das „Kalifat“ propagiert wird. Das ist in unserem Land verboten. Wer so etwas veranstaltet, verdient Verachtung. Wer da mitläuft, macht sich mitverantwortlich. Und es treibt mir die Schamröte ins Gesicht, wenn man Teilnehmerzahlen solcher Aufmärsche mit denen von Solidaritätsbekundungen für Israel vergleicht.

Was hat sich da seit den 70er Jahren verändert, als eben die Solidarität mit Palästina ein typisch linker Topos war – linke Politik-Räson sozusagen?

Bis 1967 war die deutsche Linke auf Seiten Israels, bis die PLO als antikoloniale Macht auftrat und sich in die nationalen Befreiungsbewegungen einreihte. Was als links galt, ohne Rücksicht auf die zunehmende ideologische Ausrichtung am Islamismus. Der Konflikt hat sich verschärft, seit auf beiden Seiten nicht mehr teilbare Konflikte um die Aufteilung von Territorien in zwei Staaten verhandelt werden, sondern archaische Ansprüche auf Land, die religiös aufgeladen sind. Dann werden Konflikte unteilbar und unlösbar.

Braucht Israel die Ermahnung zur Wahrung des Völkerrechts? Der Hamas hat das noch niemand einzuschärfen versucht.

Eben. Ich hoffe dennoch, dass am Ende sowohl die rechtsradikale israelische Führung Bankrott anmelden muss, deren Politik der Härte den Juden weltweit mehr Unsicherheit gebracht hat denn je seit 1945, als auch dass die Hamas durch eine gemäßigte kompromissbereite PLO-Führung abgelöst wird. Dann könnte – man wagt diese „List der Vernunft“ kaum zu erhoffen – wieder der Raum für die Wiederaufnahme des Oslo-Friedensprozesses entstehen, für den einst Jitzchak Rabin und Jassir Arafat mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurden. Dieser Prozess wurde vor 20 Jahren von beiden Seiten brutal gestoppt. Heute sitzen diejenigen, aus deren Reihen Rabins Mörder kam, in der israelischen Regierung.

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