Deutschland im KrisenmodusDas WM-Vorrunden-Aus als Spiegel der politischen Stimmung

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Deutschland ist im Krisenmodus, sowohl sportlich als auch politisch.

Berlin – Es ist seit 1954 Usus geworden, in Fußball-Weltmeisterschaften auch ein wenig die Zeiten zu spiegeln, in denen sie sich ereignen. Mit Recht. Der von Sepp Herberger, Helmut Rahn und Fritz Walter seinerzeit errungene Titel – das sogenannte Wunder von Bern“– steht schließlich bis heute für das Aufsteigen Deutschlands aus Schuld und Scham des Zweiten Weltkrieges. Entsprechend klingt Herbert Zimmermanns Radio-Kommentar: „Tor! Tor! Tor!  – Deutschland ist Weltmeister!“, unverändert in unseren Ohren.

Die Weltmeisterschaft 1990 wiederum brachte den ersten Titel des kurz darauf wiedervereinigten Landes. Und 2006 dann das „Sommermärchen“ – Patriotismus mit Leichtigkeit gepaart. Ein neues, nie da gewesenes Phänomen zwischen Rhein und Oder. Der Soziologe und Publizist Norbert Seitz hat über derlei Bezüge 1998 sogar  ein Buch veröffentlicht. Es heißt: „Doppelpässe. Fußball und Politik“.

Nun mag man manche der in der Vergangenheit gezogenen Parallelen für weit hergeholt und intellektuell ein bisschen spinnert halten. 2018 allerdings sind die Parallelen zwischen dem Zustand der Republik und seiner Nationalmannschaft tatsächlich unabweisbar, ja bisweilen frappierend.

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2006 war die Euphorie kaum zu topen

Das beginnt bei der Stimmung, die wir in den letzten Wochen erlebt beziehungsweise eben nicht erlebt haben. Bei besagtem „Sommermärchen“ 2006 war die Euphorie ja kaum mehr zu toppen gewesen – auch wenn Jürgen Klinsmanns Truppe am Ende nicht den Fußball-Thron bestieg. In Berlin gab es  herrliche Bilder wie jenes von schwedischen Fans in ihren gelben Trikots, die auf Ausflugsschiffen die Spree entlangschipperten – und anderen schwedischen Fans in ebenfalls gelben Trikots, die ihnen vom Ufer aus zuwinkten. Sie genossen das preiswerte Bier.

2014 fuhren die deutschen Weltmeister an einem heißen Sommertag im offenen Wagen durchs Regierungsviertel. Tausende säumten die Straßen. Auch Linksliberale kleideten sich in Nationaltrikots – ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen. 2018 hingegen hielt sich das Public Viewing in überschaubaren Grenzen. Und in Russland gerieten sich deutsche und schwedische Funktionäre am Spielfeldrand in die Haare.

Schon weit vor dem Anpfiff schien ein Schatten über der WM zu liegen – und zwar einer, der sich aus der nationalistisch gefärbten Großwetterlage ergibt. Sie manifestierte sich im Streit um Mesut Özil und Ilkay Gündogan und deren Fotos mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Dieser Integrations-GAU“, sagt Norbert Seitz heute, „war Gift für die Turniervorbereitung.“ Das Gift  hinterließ Wirkung bis zum Schluss. Waren wir vor noch gar nicht langer Zeit stolz auf die Vielfalt von „La Mannschaft“, stand plötzlich die Frage im Raum, ob dieser oder jener überhaupt dazugehöre – oder dazugehören wolle.

Deutsche Zeitgeschichte spiegelt sich im Gegensatz

Ein Foto Angela Merkels mit dem halb nackten Özil hat uns das russische Championat jedenfalls nicht geboten.  Die Regierungschefin kam nicht mal in die Nähe eines Stadions, geschweige denn in die Nähe einer Kabine. Politik und Fußball konnten einander keinen Glanz mehr verleihen.  Vielmehr ging es aus deutscher Sicht zu Ende mit dem dröhnenden Tweet  von AfD-Rechtsaußen Jens Maier: „Ohne Özil hätten wir gewonnen.“ Wie man es auch dreht und wendet: In diesem Gegensatz spiegelt sich deutsche Zeitgeschichte.

Und nicht nur den Deutschen versaute die Politik den Genuss. Die Schweizer Xherdan Shaqiri und Granit Xhaka gerieten in den Fokus, weil sie serbischen Fans den Doppeladler ihrer albanischen Vorfahren zeigten. Und der serbische Trainer Mladen Krstajic wünschte den deutschen Referee Felix Brych vor das Den Haager Kriegsverbrechertribunal. So wenig Leichtigkeit war nie.

Die verblüffendste Übereinstimmung zwischen Politik und Fußball bot sich  freilich beim Blick auf den Rasen. Die Politik wird ja seit geraumer Zeit beherrscht von Angst mit Anflügen von Selbstherrlichkeit. Die einen haben Angst vor den Flüchtlingen. Die anderen haben Angst vor den Rechtspopulisten, die unter dem Eindruck der Flüchtlinge erstarkten. Eine ähnliche Mischung aus Selbstherrlichkeit und Angst haben wir auch in jenen Stadien gesehen, in die die deutsche Mannschaft einlief. Gegen Mexiko verbreiteten Neuer und Co. noch den Eindruck: „Uns kann keiner.“ Gegen Südkorea war eine Elf mit Blei an den Füßen zu besichtigen, die von Furcht gelähmt schien – von der Furcht, zu schlecht zu verteidigen, und von der Furcht, zu schlecht zu stürmen. Franz Beckenbauers Satz „Geht’s raus und spielt’s Fußball!“ – den konnte sie nicht beherzigen.

Auf dem Papier ist die Furcht grundlos

Das Verblüffende daran ist weniger die Furcht als der Umstand, dass sie so grundlos erscheint. Denn fast alle anderen in der Welt beneiden uns doch: um unsere wirtschaftliche Stärke, unsere politische Stabilität – und unsere Fußballer, die längst in London, Madrid und Paris Millionen verdienen, dabei Fremdsprachen lernen und zuletzt  sowieso immer gewinnen. Auch 2018 konnten und können wir politisch wie fußballerisch aus dem Vollen schöpfen, im Prinzip. Und es kommt trotzdem bloß Mist dabei heraus. Zumindest kein Teamspiel.  Norbert Seitz findet: „In der Tat korrespondieren die Erfolgsdaten in der Wirtschaft oder nach dem Confed-Cup nicht mit dem Geist der Truppe.“ Im politischen Sinne sind die Truppe übrigens – wir alle.

Das wiederum hat jetzt womöglich Konsequenzen. Jogi Löw, bis vor einem Monat noch für unantastbar gehalten, wankt. Für einen Trainerwechsel spricht ebenso viel wie dagegen. Tja, und Angela Merkel? Sie kommt nicht wenigen wie überzählig vor – wie eine, die von der Zeitgeschichte bloß noch nicht abgeholt worden ist. Da passt es ins Bild, dass ausgerechnet der irrlichternde Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU als Sportminister auch noch Fußballminister ist – obwohl er, soweit bekannt, vom Kicken keine Ahnung hat und ungefähr so Politik macht wie Georg „Katsche“ Schwarzenbeck ehedem verteidigte.

Gewiss wird sich Fußball-Deutschland von dem WM-Desaster erholen – ob mit oder ohne Löw. Im nächsten Jahr wird keiner mehr wissen, wo dieses Watutinki liegt. Der deutschen Wirtschaft wird es immer noch prächtig gehen, wenn Merkel in der nächsten Woche ihren Rücktritt einreichen sollte mit der Begründung: „Ich kann mit diesem Mann nicht mehr arbeiten.“ Sprich: mit Seehofer.

Gleichwohl wird man das Gefühl nicht los, dass hier wie dort der Wurm drin ist. Bei Lichte besehen sind die Verhältnisse diesseits und jenseits des Elfmeterraums vor allem eines: seltsam unerklärlich.

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