Interview mit NRW-Verfassungsschutzchef„Rechtsextreme Kampagnen zielen auf die Mitte der Gesellschaft“

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Interview mit Jürgen Kayser dem Chef des NRW-Verfassungsschutzes.

Interview mit Jürgen Kayser, dem Chef des NRW-Verfassungsschutzes: „Ohne Filter ist gerade auf Kanälen wie Telegram oder TikTok extremistisches Hardcore-Material einfach zu finden.“

Welche Gefahr droht durch Rechtsextremisten und Islamisten? NRWs oberster Verfassungsschützer Jürgen Kayser im Interview.

Er ist der oberste Verfassungsschützer von NRW-Innenminister Herbert Reul. Seit anderthalb Jahren leitet Jürgen Kayser die Behörde mit ihren 500 Mitarbeitern. Im Interview mit dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ schildert der Nachrichtendienstler die drohenden Gefahren durch Rechtsextremisten und islamistische Terroristen. Seine Beobachtung: Die Täter werden immer jünger. Zudem schließen sich radikale Gruppierungen jeglicher Strömung gegen die Demokratie zusammen.

Herr Kayser, seit 18 Monaten leiten Sie den NRW-Verfassungsschutz. Wo liegen für die Inlandsnachrichtendienste die größten Herausforderungen in den kommenden Jahren?

Jürgen Kayser: Die größte Herausforderung für unsere Demokratie ist der Rechtsextremismus mit seiner menschenverachtenden Ideologie. Die Kampagnen der Rechtsextremisten werden zunehmend professioneller und zielen auf Menschen aus der Mitte der Gesellschaft. Viele Themen, wie der Ukraine-Krieg, die Gasmangellage und die Migration von Flüchtlingen besorgen weite Teile der Gesellschaft und sind damit anschlussfähig. Das ist eine schleichende Gefahr für die Demokratie, vor der man besonders warnen muss.

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Welche rechtsextremen Gruppierungen sind besonders gefährlich?

In NRW haben wir unter anderem die Identitäre Bewegung mit ihrem Ableger „Revolte Rheinland“ besonders im Blick. Das ist eine Gruppe, die vornehmlich in Bonn und Düsseldorf durch öffentlichkeitswirksame Aktionen in Erscheinung tritt. Dabei werden auch aktuelle Themen wie Gendern und die Queer-Bewegung aufgegriffen.

Wie agieren die Rechtsextremen konkret?

Im Juni wurden beispielsweise die Christopher-Street-Days in den Städten verächtlich gemacht. So riefen Extremisten einen „Stolzmonat“ als Gegenaktion zum „Pride Month“ der LGBTQ-Szene aus. Regenbogen-Symbole, die auf dem Asphalt von Bürgersteigen zu sehen waren, wurden in Schwarz-Rot-Gold umgefärbt. In Düsseldorf wurde ein Straßenschild in arabischer Schrift durch ein Schild ersetzt, auf dem der Name eines deutschen Kriegsherren zu lesen war, der im frühen Mittelalter gegen die Araber gekämpft hatte. Solche Aktionen werden dokumentiert und über die sozialen Netzwerke verbreitet. Das sind gezielte Marketingkampagnen, mit denen man versucht, vor allem ein junges Publikum anzusprechen.

Auch AfD-Politiker haben den „Stolzmonat“ proklamiert. Wie verfassungstreu ist die AfD in NRW?

Es liegen nicht die rechtlichen Voraussetzungen vor, dass der nordrhein-westfälische Verfassungsschutz die Aktivitäten und Strukturen der AfD in Nordrhein-Westfalen öffentlich bewerten darf.

Wie bewerten Sie das Verhalten der Klimaschutz-Aktivisten, die sich an Straßen und Landebahnen festkleben?

Wir haben bereits bei der Besetzung des Braunkohledorfes Lützerath gesehen, dass Linksextremisten – zum Beispiel die „Interventionistische Linke“ - das Thema Klimaschutz immer wieder nutzen, um ihre systemfeindliche Agenda gesellschaftsfähig zu machen. Linksextremisten versuchen dabei, ihre eigenen Ziele in die Klimaschutzbewegung hineinzutragen und so zusätzliche Anhänger und steuernden Einfluss zu gewinnen.

Kritiker haben der „Letzten Generation“ unterstellt, sich zu einer neuen „Klima-RAF“ zu entwickeln. Teilen Sie die Befürchtung?

Die „Letzte Generation“ ist genau wie die Klimaschutzbewegung insgesamt derzeit kein Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes in Nordrhein-Westfalen, insbesondere liegen den Sicherheitsbehörden bislang keine Hinweise auf eine Entwicklung zu einer terroristischen Vereinigung vor. Aber wir halten die Entwicklungen im Blick, um auf einen möglichen steuernden Einfluss durch Extremisten frühzeitig reagieren zu können.

Nach der Terrorwelle 2015/2016 im Zuge der ersten Flüchtlingskrise in der EU scheint die militante islamistische Szene inmitten des zweiten großen Migrationstroms erneut in die Offensive zu gehen. In Duisburg tötete ein syrischer Anhänger der Terror-Miliz Islamischer Staat (IS) einen Mann und verletzte drei weitere Sportler in einem Fitnessstudio, in Castrop-Rauxel bastelte ein Iraner an einer Giftbombe - dazu hob die Bundesanwaltschaft ein IS-Spendennetzwerk im Rheinland aus. Sprechen diese Fälle für eine neue Bedrohungslage durch Dschihadisten?

Die Gefahr von Terroranschlägen, die durch Islamisten begangen werden, ist nach wie vor hoch. Der Islamische Staat in der afghanischen Provinz Khorasan ruft seine Anhänger massiv dazu auf, in Europa Anschläge zu begehen – das haben wir zuletzt nach den Koranverbrennungen in skandinavischen Ländern erlebt. Auch hoben Staatsschützer im Juni ein IS-Terrornetzwerk aus Zentralasien aus, das im Zuge des Flüchtlingsstromes aus der Ukraine hier einreiste, um Anschläge zu verüben. Eine besondere Gefahr geht darüber hinaus von nicht in die Gesellschaft integrierten Menschen aus, vielfach mit Migrationshintergrund, die zudem möglicherweise psychisch labil sind. Wenn sich diese sogenannten „Lone Wolves“ im Internet selbst radikalisieren, ist dies eine große Gefahr und für die Sicherheitsbehörden besonders schwer zu entdecken.

In Köln wurde ein 13-jähriger Neo-Nazi enttarnt, der eine Chatgruppe gründete, Anleitungen zum Bombenbau postete und zu Attacken gegen Juden und Schwarzafrikaner aufrief, in Essen plante ein 16-jähriger rechtsextremer Gymnasiast ein Blutbad in seiner Schule, in Hagen wollte ein 16-jähriger Syrer die örtliche Synagoge in die Luft jagen, alle drei sind durch das Internet in die Radikalenszene abgedriftet - werden die Täter immer jünger?

Das Internet samt den sozialen Medien dient gerade bei manchen jungen Menschen zunehmend als Radikalisierungsmaschine. Quasi als digitale Echokammer. Ohne Filter ist gerade auf Kanälen wie Telegram oder TikTok extremistisches Hardcore-Material einfach zu finden. In extremistischen Chat-Gruppen kursiert übelste Hetze, die gerade bei Kindern und Jugendlichen auf fruchtbaren Boden fällt. Meist handelt es sich um User mit schwierigen Biografien, etwa Einzelgänger, die in der Schule gemobbt werden oder im Elternhaus Probleme haben. Frust wandelt sich dann schnell in Hass auf die gesamte Gesellschaft. Die extremistische Ideologie bietet das Ventil für die eigene Unzufriedenheit mit dem Leben. Die Wut kanalisiert sich auf das Ziel, es allen heimzuzahlen. Im Grunde spielt es keine Rolle, ob diese jungen Menschen durch rechtsextremistische oder islamistische Bauernfänger radikalisiert werden. Im Fall des 13-jährigen Schülers war es denn auch so, dass er in der rechtsextremistischen Chatgruppe eine tragende Rolle gespielt hat. Es ist die Aufgabe der Nachrichtendienste und Sicherheitsbehörden, solche Zirkel frühzeitig aufzudecken.

In Berlin konstatieren die Ermittler zunehmend Kontakte zwischen kriminellen kurdisch-libanesischen Clans und Islamistenkreisen, wie sieht es in NRW aus?

In Einzelfällen sehen wir das hier auch. In sozialen Netzwerken treten etwa islamistische Online-Prediger wie Abul Baraa und Ibrahim El-Azzazi mit dem Clan-Chef Abou-Chaker auf. Es gibt da Überschneidungen, wobei es derzeit eher darum geht, die gegenseitige Reichweite über Social Media zu erweitern. Klar ist aber auch, dass die Grenzen zwischen Extremisten und Kriminellen verschwimmen. Zusehends stellen wir Kennverhältnisse und Verbindungen fest.

Durch den Ukraine-Krieg, Corona und der Klima- und Energiekrise verschieben sich offenbar die Fronten in den Extremistenmilieus, was kommt da auf uns zu?

Die Grenzen zwischen Rechtsextremisten und extremistischen Salafisten schwinden dann, wenn ein gemeinsames Feindbild entsteht. Der Hass auf die Woke- oder die LGBTQ-Bewegung, das Gender-Thema, Rassismus, die Furcht vor einer neuerlichen Flüchtlingsbewegung bis hin zur Rolle der USA als angeblichem Aggressor im Ukraine-Krieg spielen eine große Rolle. Rechtsextremistische Influencer verbünden sich inzwischen mit muslimischen Youtubern aus der Rapper- und Kampfsportszene. In Leverkusen hat sich die Partei „Aufbruch, Frieden, Souveränität, Gerechtigkeit“ gebildet. Zwar ist die Zahl der Anhänger überschaubar, doch an der Spitze stehen pro-russische Anhänger, Rechtsextremisten und Islamisten. Was wir hier sehen, ist eine Querfront-Bewegung, die sich vor allem über ein gemeinsames Feindbild gefunden hat. Die diffuse Mischung über Extremismus-Grenzen hinweg, zusätzlich angeheizt durch Verschwörungsagitatoren im Netz, ist eine neue Form hybrider Bedrohungen, die uns intensiv beschäftigt.

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