Bisexuelle Kölnerin„Wer sich als bi outet, gilt schnell als unersättlich und untreu“

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Julia Shaw, Autorin des Buches "Bi"

Julia Shaw setzt sich dafür ein, Bisexualität sichtbarer zu machen.

Die Autorin Julia Shaw hat in Köln Abitur gemacht und spricht im Interview über die Herausforderungen von Bisexualität.

Julia Shaw ist Autorin und Wissenschaftlerin und hat ein umfassendes Buch über Bisexualität geschrieben. Sie selbst fühlt sich zu Männern und Frauen hingezogen und sagt: „Wir sind nicht sichtbar. Homosexuelle grenzen uns aus, Heterosexuelle hypersexualisieren uns.“ Shaw hat in Köln am Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasium in Sülz Abitur gemacht und hatte hier auch ihre erste Freundin. Im Interview in Köln spricht sie darüber, wie schwierig das Outing war und wie viele Menschen sich nicht eingestehen, dass sie sich zu mehreren Geschlechtern hingezogen fühlen.

Frau Shaw, Sie haben mit „Bi“ ein umfassendes Buch über Bisexualität geschrieben, in dem Sie viel Wissenswertes dazu aus Forschung, Kultur und Geschichte zusammentragen. Es geht darin aber auch um das ständige Gefühl der Ausgrenzung. Ist Bisexualität heute nicht etwas völlig Akzeptiertes, über das man offen sprechen kann?

Julia Shaw: Diese Frage höre ich wirklich ständig. Nein, das ist es nicht. Man kann immer noch nicht offen darüber sprechen, viele Bisexuelle trauen sich nicht, sich zu outen. In bestimmten Gruppen in großen Städten wird zwar sehr offen über sexuelle Identität gesprochen. Aber das ist leider nicht überall so. Wie mit dem Thema umgegangen wird, hat viel mit Stadtgröße, Kultur und Religion zu tun. Sogar in Städten wie Köln gibt es immer noch viele Menschen, die in einem Umfeld leben, in dem sie nicht offen LGBT+ leben können. Das sollten wir nicht unterschätzen.

Im Buch ist sogar die Rede von Biphobie. Was bedeutet das genau?

Biphobie ist die Angst vor oder Diskriminierung von bisexuellen Menschen. Bisexuelle Menschen, vor allem Frauen, werden sehr oft hypersexualisiert. Man unterstellt ihnen, dass sie nicht genug bekommen können und für Monogamie ungeeignet sind. Manche glauben, dass ihr Sexleben nur aus Orgien und Dreiern besteht und bedienen damit ihre eigene Fantasie. Bisexuelle Menschen hören auch oft den Vorwurf, sie würden lügen oder nur eine Phase durchleben, vor allem aus der queeren Community. Das sind negative Vorurteile, die bisexuellen Menschen schaden.

Im Buch beschreiben Sie eine Szene, in der Sie in einer Londoner Lesbenbar eine Frau küssen und die anderen Frauen zu ihnen sagen: „Wir glauben euch nicht.“ Kurz danach werden sie beide vor der Bar von einer Gruppe junger Männer angemacht, die in den beiden küssenden Frauen ihre sexuellen Fantasien erfüllt sehen. Meinen Sie solche Situationen?

Ja genau. Bisexuelle Menschen werden oft von Homosexuellen ausgegrenzt und nicht ernst genommen und von heterosexuellen Menschen werden vor allem Frauen sexualisiert. Bisexuelle Männer bekommen dagegen oft gesagt, dass sie eigentlich schwul seien. Bei nicht-binären Personen kommt es darauf an, ob sie eher als Mann oder Frau gelesen werden.

Da Sie selbst sehr gut aussehen, haben Sie sicher viele dieser Erfahrungen gemacht. Ist das noch mehr geworden, seit Sie sich als bisexuell geoutet haben?

Ich wurde auch schon als junge Wissenschaftlerin sexualisiert und bekomme online auch manchmal Vergewaltigungs- und Morddrohungen. Dass ich jetzt auch noch bekennend bisexuell bin und ein Buch darüber geschrieben habe, ist für manche eine weitere Ausrede, mich zu attackieren. Statistiken zeigen übrigens, dass Bi-Frauen sehr viel öfter sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind als heterosexuelle oder homosexuelle Frauen. Allerdings muss ich sagen, dass dieses Buch und mein Outing als bi auch zu vielen positiven Reaktionen geführt haben. Dadurch wächst die Bi-Community zusammen.

Welche Probleme haben Männer, die sich als bisexuell outen?

Generell ist das Outing für sie oft schwieriger. Wenn sie es tun, werden sie weniger ernst genommen und ihnen wird unterstellt, heimlich schwul zu sein. Laut Statistiken erzählen die meisten Männer es noch nicht einmal ihrer Familie oder ihren Freunden, dass sie manchmal auch an Männern Interesse haben. Viele wissen nicht, mit wem sie darüber reden könnten. Sie schämen sich oder leugnen es. Selbst die, die ab und zu was mit Männern haben, bezeichnen sich trotzdem oft als 100 Prozent hetero. Viele gestehen sich noch nicht einmal selbst ein, dass sie bisexuell sein könnten.

Anders als manche Homosexuelle kann man bisexuelle Menschen schlecht „erkennen“. Wie könnte man das ändern?

Das Einzige, was man wirklich tun kann, ist immer wieder zu sagen: „Ich bin bi“. Man muss sich immer wieder outen. Ich bin auf meiner Tour zum Beispiel mit einem Koffer unterwegs, auf dem steht: „Oh, look, a bisexual“. Ich mache das natürlich auch halb als Scherz, weil diese Frage der Sichtbarkeit immer wieder aufkommt, habe ich mir gedacht: „Na dann schreibe ich es mir halt auf den knallgelben Koffer!“ Aber auf einer Meta-Ebene ist es auch ernst gemeint, wenn wir uns nicht sichtbar machen und gegen Vorurteile kämpfen, hört die Biphobie niemals auf.

Für die Verbundenheit mit mehreren Geschlechtern gibt es auch Begriffe wie pansexuell oder fluide. Kritiker sagen, dass mit dem Begriff bisexuell nur Männer und Frauen gemeint seien. Wie sehen Sie das?

Die meisten bisexuellen Aktivisten definieren Bisexualität als die Anziehung zu mehr als einem Geschlecht. Diese Definition schließt transsexuelle und nicht-binäre Menschen ein. Ich benutze durchgängig den Begriff Bisexualität, weil der am bekanntesten ist und ich möchte, dass mich so viele Menschen wie möglich verstehen.

Nicht wenige Menschen haben bereits Erfahrungen mit gleichgeschlechtlichem Sex gemacht. Sie schreiben, dass die meisten das als Experiment abtun und nicht darüber nachdenken, ob sie bisexuell sein könnten. Warum?

Viele Menschen interessieren sich in ihrem Leben irgendwann sexuell oder romantisch für eine Person, die nicht dem Geschlecht entspricht, in das man sich normalerweise verliebt. Für viele ist das sehr verwirrend, weil sie sich fragen, ob sie das überhaupt dürfen oder ob sie vielleicht eigentlich lesbisch oder schwul sind. Das ist eine unschöne Situation. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen wissen, dass es Bisexualität gibt und dass sie auch für sie infrage kommen kann. Man darf sich auch erst sehr viel später dafür entscheiden, das muss nicht unbedingt in der Jugend sein, sondern kann auch noch mit 50 nach einer Scheidung oder noch mit 80 geschehen.

Sind es dennoch eher junge Menschen, die sich zu mehreren Geschlechtern hingezogen fühlen?

Forschungen zeigen, dass sich ungefähr ein Drittel der Menschen zwischen 16 und 24 Jahren nicht als 100 Prozent hetero- oder homosexuell bezeichnet. Aber die wenigsten davon sagen, dass sie bi- oder pansexuell seien. Man schämt sich für den Begriff und vielleicht auch für die Sexualität, die dazu gehört. Das muss sich ändern. Denn wenn wir Bisexualität nicht klar bezeichnen, wird sie unsichtbar.

Warum wird so wenig über Bisexualität geredet?

Der Begriff an sich wird oft umgangen, auch in den Medien. Stattdessen wird drumherum geredet: „Ich mag Menschen. Das Geschlecht ist mir egal.“ Selbst einige bisexuelle Menschen verwenden den Ausdruck nicht, weil sie Angst davor haben, dass anschließend sofort ein blöder Spruch kommt. Auch ich habe mich selten geoutet, ohne blöde Kommentare oder die typischen Vorurteile zu hören – unersättlich, nie mit einer Person zufrieden, untreu.

Wie sollten Menschen im besten Fall reagieren? 

Positiv oder neutral. Wenn sich jemand outet, könnte man fragen: „Danke, dass Du mir das sagst. Möchtest du darüber sprechen?“ Einfach auf die Person und das Outing eingehen, denn es gibt ja meistens einen Grund dafür, warum die Person das macht. Aber nicht sagen: „Warum erzählst du mir jetzt, was du im Bett machst?“ 

Sie sind in Köln geboren, haben abwechselnd in Köln und in Kanada gelebt und am Elisabeth-von-Thüringen-Gymnasium Abitur gemacht. Dort hatten Sie als 15-Jährige Ihre erste Beziehung – mit einer Frau. Wie war das? 

Wir haben unsere Beziehung verheimlicht, weil wir Angst hatten, dass die anderen sich über uns lustig machen. Irgendwann haben unsere Eltern verstanden, dass wir nicht nur befreundet sind. Aber wir wollten nicht das bisexuelle oder lesbische Paar sein. Offenbar hatten wir Angst vor Konsequenzen. Ich glaube nicht, dass mir das passiert wäre, wenn meine erste Beziehung mit einem Jungen gewesen wäre. 

Und das in einer so offenen Stadt wie Köln. Im Buch erzählen Sie auch, wie Sie als Jugendliche den Christopher-Street-Day in Köln besucht haben. Dass Sie die Parade und das Straßenfest als lebensfroh und bunt empfunden haben, aber sich nie zugehörig gefühlt haben. Warum? 

Es kam mir gar nicht in den Sinn, dass es für mich sein könnte. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch keine Ahnung von der queeren Geschichte, oder wie Bisexualität zu homosexuellen Identitäten passte. In der Schule wurde nie darüber gesprochen. Dabei wäre das nicht nur im Aufklärungsunterricht wichtig, sondern auch in den anderen Fächern, dass man zum Beispiel weiß, ob eine historische Person homo- oder bisexuell war. Uns fehlen die Vorbilder. Bis ich über 30 war, kannte ich zum Beispiel auch keine Wissenschaftlerinnen, die bi waren. Dabei hätte mir das sehr geholfen.

Würden sich Ihrer Meinung nach mehr Menschen als bisexuell outen, wenn mehr darüber gesprochen würde, es also mehr Information gäbe?

Ganz sicher. Und dabei soll mein Buch helfen. Seit ich Forschung, Geschichte und Kultur für das Buch aus dem Schatten geholt habe, fühle auch ich mich viel sicherer in meiner eigenen Identität. Ich hoffe, das geht anderen Menschen auch so – egal ob sie sich selber als bi definieren. Das Buch soll allen helfen, bessere Fragen über die eigene Sexualität zu stellen und die menschliche Fähigkeit für vielfältige Liebe zu entdecken.

Zum Weiterlesen: Julia Shaw: Bi. Vielfältige Liebe entdecken, Hanser Verlag, 301 Seiten 25 Euro

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