Der Textauszug von Heinrich August Winkler

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30. Januar: Hitler grüßt vom Fesnster der Reichskanzlei.

30. Januar: Hitler grüßt vom Fesnster der Reichskanzlei.

Beim ersten Zentralabitur in NRW ging es im Fach Geschichte um drei Themen: Zur Wahl standen Fragen zum Versailler Vertrag, zur DDR - und zur Machtergreifung. Wir widmeten uns dem dritten Punkt in einem Wettbewerb.

Das waren die Aufgaben:

Analysieren Sie den vorliegenden Textauszug (aus: Heinrich August Winkler: „Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie“, München 1993).

Erläutern Sie den von Winkler in seiner Argumentation angesprochenen Charakter des deutschen Nationalismus in seiner historischen Entwicklung.

Setzen Sie sich vor dem Hintergrund Ihrer Vorkenntnisse kritisch mit der Position Winklers zum Aufstieg des Nationalsozialismus auseinander.

Das war die Quelle:

Der 30. Januar 1933 ist einer der großen Wendepunkte der Weltgeschichte. Mit der Machtübertragung an Hitler endete nicht nur die erste deutsche Republik; Deutschland hörte auf, das zu sein, was es schon lange vor 1918 gewesen war: ein Rechts- und Verfassungsstaat. [. . .] Die Frage, ob die Katastrophe aufzuhalten war, beschäftigt bis heute nicht nur die Historiker [. . .]

Die Zeltgenossen hätten die Frage [. . .] anders beantwortet, als die Historiker es aus dem Abstand vieler Jahrzehnte zu tun geneigt sind. Für die meisten Deutschen, die die Zeit von 1918 bis 1933 bewusst erlebten, lag über den vierzehn Jahren der ersten Republik nicht der Schatten des Kaiserreiches, sondern der von Versailles. Die Friedensbedingungen trafen die Deutschen auch deshalb so hart, weil das Koalitionskabinett Scheidemann bewusst darauf verzichtet hatte, die Öffentlichkeit in den Wochen zuvor über die tiefere Ursache des zu erwartenden Strafgerichts, die deutsche Verantwortung für den Kriegsausbruch, aufzuklären. Der Friedensvertrag verstieß gegen den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker; die Reparationen waren eine schwere Belastung für die deutsche Wirtschaft; der Kriegsschuldartikel verzerrte [. . .] die historische Wahrheit. Aber die Regierungen der Siegermächte standen unter dem Druck ihrer Völker, die keinen Anlass sahen, einem ganz und gar nicht reuigen Sünder gegenüber Milde walten zu lassen. Dennoch war Versailles kein „Karthago-Friede“. Das Reich wurde amputiert, aber es blieb bestehen und hatte gute Aussichten, nach einiger Zeit wieder einen Platz unter den europäischen Großmächten einzunehmen. Zu diesem Schluss kamen 1919 indes nur wenige Zeitgenossen. Vielmehr einte die Deutschen der Weimarer Jahre nichts so sehr wie die Weigerung, den Friedensvertrag hinzunehmen.

Die Gründe der deutschen Sonderentwicklung reichen [. . .] tief in die Vergangenheit zurück. In der Revolution von 1848 war der bürgerliche Liberalismus mit seinem Versuch gescheitert, gleichzeitig die Einheit und Freiheit Deutschlands herzustellen. Die Einheit kam in Gestalt von Bismarcks Reichsgründung. Aber von einer freiheitlichen Verfassung konnte [. . .] keine Rede sein. Die ungelöste Frage der

Freiheit musste daher 1918 / 19 erneut auf der Tagesordnung stehen.

So wie die Schwäche der demokratischen Kräfte weit zurückreichende Ursachen hatte, so auch die Stärke der schließlich siegreichen Partei. Der Nationalismus war ursprünglich eine Waffe des liberalen Bürgertums [. . .], mithin ein Element der bürgerlichen Emanzipation, gewesen. Erst im Jahrzehnt nach der Reichsgründung wurde der Nationalismus von der politischen Rechten „entdeckt“ und für den Kampf gegen die Linke aller Schattierungen nutzbar gemacht. Fortan hieß „national“ sein In erster Linie anti-international sein. [. . .]

Der Bruch mit dem früheren, „fortschrittlichen“ Nationalismus war in Deutschland deswegen so radikal, weil die demokratischen Wurzeln des Nationalismus schwächer waren als in Westeuropa. Der deutsche Nationalismus war entstanden im Kampf gegen die Fremd- und Vorherrschaft des napoleonischen Frankreich. Diese Erfahrung diskreditierte in den Augen vieler Deutscher auch die universalen Werte, mit denen sich der französische Nationalismus legitimierte: die Ideen von 1789. Da es einen deutschen Nationalstaat noch nicht gab, konnte sich der frühe deutsche Nationalismus auch nicht an einer eigenen, subjektiv als vorbildhaft empfundenen politischen Ordnung ausrichten. Er berief sich vielmehr auf vermeintlich objektive Größen wie Volk, Sprache und Kultur, die dem politischen Willen gleichsam vorgelagert waren. Von dieser „völkischen“ Hypothek hat sich der deutsche Nationalismus nie ganz befreien können.

Hitlers extremer Nationalismus war nicht nur eine Antwort auf das Trauma des verlorenen Krieges und der Demütigung durch Versailles.

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