„Es gibt harte Tage“Pflegefamilien sorgen für umfassende Hilfe

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Sieben Pflegekinder werden in Kall von Mutabor betreut. Sehr eng kann die Bindung zu den Pflegeeltern werden.

Sieben Pflegekinder werden in Kall von Mutabor betreut. Sehr eng kann die Bindung zu den Pflegeeltern werden.

Kall – „Nervenstränge sind wie Muskeln – trainierbar“, sagt Biggi. Die anderen lachen. Die Stimmung ist fröhlich in dem Haus in Kall. Schließlich feiert die Leiterin der Eifel-Dependance von Mutabor, Alexandra Mekic, Geburtstag. Doch auch, wenn das ein Extragrund für gute Laune ist, ist es doch nicht der eigentliche Anlass, wegen dem die fünf Frauen sich treffen.

Was sie miteinander verbindet, wird deutlich durch die Absage der sechsten Frau, die eigentlich auch bei dem Treffen sein sollte. „Sie hat angerufen und abgesagt, weil ihr Sohn heute anderthalb Stunden gebraucht hat, um sich anzuziehen“, erzählt Mekic. Die anderen nicken verständnisvoll.

Verbunden durch Pflegekinder mit Handicap

So etwas kennen sie, denn sie alle sind Pflegemütter von Kindern, die jeweils das gleiche Handicap haben. Einmal im Monat treffen sie sich in Kall, um sich auszutauschen, sich im Bedarfsfall Rat zu holen und auch ein paar unbeschwerte Stunden zu gönnen. Außer Mekic sind es Sarah, Judith, Biggi und Sonja, die mit an dem Tisch sitzen, deren Nachnamen aber nicht genannt werden sollen.

Es ist sind die ganz individuellen Geschichten ihrer Schützlinge, die sie verbinden. Denn so unterschiedlich die Ursachen auch sein können, die ihre Unterbringung in einer Pflegefamilie notwendig gemacht haben, die Folgen seien oft ähnlich, so Mekic. Es gebe geistige wie körperliche Behinderungen, manche Kinder haben Gewalt oder Missbrauch in der Familie erlebt oder FADS, wie der Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft genannt wird.

„Die Kinder haben mehr Special Effects“

„Es gibt keine Reizfilterung“, versucht Mekic die Probleme zu beschreiben. Alle Wahrnehmungen, ob wichtig oder nicht, würden deshalb im Gehirn gleich verarbeitet und Chaos verursachen. „Die Kinder haben mehr Special Effects“, sagt sie. „Sie brauchen viel Anleitung“, fügt Sarah hinzu. Dazu gebe es Probleme mit der Impulskontrolle und eine niedrige Frustrationstoleranz.

All diese Kinder stehen unter der Obhut der Jugendämter, die bei Bedarf bei Mutabor, einem freien Träger in der Familien-Jugendhilfe, anfragen, ob eine Pflegefamilie zur Verfügung steht. Doch im Moment müssste wohl abgesagt werden. Denn die Kapazitäten in Kall sind ausgeschöpft. „Der Bedarf ist riesig, jeden Tag bekomme ich zwei bis drei Anfragen“, so Mekic.

Umfassende Hilfe für die Kinder

„Wir qualifizieren die Eltern und begleiten sie weiter“, beschreibt Mekic ihre Aufgabe. Sie suche die gute Familie für ein Kind. „Familie und Kind lernen sich langsam kennen“, beschreibt sie das Verfahren. Schließlich sei das eine Lebensaufgabe. „Alle Entscheidungen werden gemeinsam getroffen“, sagt sie.

Mutabor

Mutabor ist ein freier Träger in der Familien-Jugendhilfe, organisiert als gemeinnützige GmbH. Das Haupthaus ist in Eitorf, die Dependance in Kall wurde im Oktober 2017 eröffnet. Dort sind zwei hauptamtliche Mitarbeiter tätig. Fünf Pflegefamilien werden über das Kaller Büro betreut, im gesamten Unternehmen sind es 45. Von Bitburg bis Düren reicht das Einsatzgebiet der Mitarbeiter in der Eifelregion.

Um die 200 Kinder werden insgesamt in verschiedenen Betreuungsformen von der Pflegefamilie über Wohngruppen bis zu einer Schulbegleitung betreut. Dabei kann Mutabor auf rund 180 Mitarbeiter zurückgreifen.

Familien, die sich vorstellen könnten, sich als Pflegefamilie zu engagieren, können Kontakt zu der Fachberaterin Alexandra Mekic aufnehmen unter Telefon 0 24 41/ 7 96 96 90. (sev)

Für Sarah war der Wunsch nach einem Kind der Anlass, sich als Pflegemutter ausbilden zu lassen. „Wir wollten ein Kind, aber kein eigenes“, sagt sie. Sie habe einem Kind helfen, ihm eine Chance geben wollen. „Mich hat eine Freundin auf einen Artikel über Pflegekinder aufmerksam gemacht“, erzählt Biggi. Als sie Kontakt zu Mutabor aufgenommen habe, sei ihr nichts von „rosa Blümchen“ erzählt worden, sondern die Wahrheit. Seminare und Ausbildung folgten, bis schließlich die Anfrage gekommen sei.

Jeder Tag sei anders und nicht planbar

„Es gibt harte Tage“, ist Biggi ehrlich. Doch die gebe es wohl auch bei leiblichen Kindern. Die Erfahrung macht vor allem Sarah. Sie hat außer ihrem jüngsten Pflegekind noch zwei leibliche Kinder im Alter von 16 und 14 Jahren sowie einen Pflegesohn im Alter von zehn Jahren.

Einmal im Monat trifft sich der Kreis, der auch so etwas wie eine Selbsterfahrungsgruppe ist. „Man kann einfach sagen, es war eine harte Woche“, erzählt Biggi. Schließlich sei jeder Tag anders und nicht planbar. Selbst eine gute Sache könne zur totalen Eskalation führen. „Ich finde die Ideenvielfalt hier toll“, sagt Sonja. Der Kreis sei nicht nur Kummerkasten, sondern liefere auch Lösungsansätze.

Die positiven Erfahrungen überwiegen

Bei manchen der Kinder besteht Besuchskontakt mit den leiblichen Eltern. „Die Kinder wissen, dass es ,Baucheltern’ gibt“, erzählt Biggi. Ob die Kontakte überhaupt möglich sind, unterscheidet sich von Kind zu Kind. „Es ist jedes Mal ein Rausreißen“, sagt Biggi. „Manche Eltern kriegen es nicht hin, bei anderen ist es gar kein Problem“, erläutert Mekic, es gebe alle Varianten. „Das fällt uns auch schwer“, gibt Judith zu. Am besten sei es, wenn leibliche und Pflegeeltern sich gut verstehen würden.

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Und doch würden die positiven Erfahrungen überwiegen, sind sich die Frauen einig. „Ich möchte sagen, wie schön das ist, dass dieser kleine Mensch zu uns gekommen ist“, sagt Sonja. „Es schweißt zusammen“, ergänzt Biggi.

Schwierig sei dagegen oft das Unverständnis der Außenstehenden, das viel Aufklärungsarbeit notwendig mache. „Besonders Schulen haben oft keine Ahnung“, moniert Judith, und Alexandra Mekic nimmt dafür als Beispiel die Mutter, die an diesem Morgen nicht zum Treffen der Gruppe kommen konnte: „Erklären Sie mal einem Lehrer, dass Ihr Kind zu spät in die Schule kommt, weil es sich nicht anziehen konnte.“

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