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„Nicht mitgedacht worden“Warum Widdersdorf sein schlechtes Image nicht loswird

Lesezeit 4 Minuten
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Blick auf Widdersdorf-Süd 

  • Widdersdorf war einst das größte Neubaugebiet Europas.
  • Stadtplaner sehen das Projekt auch heute noch kritisch und sprechen von „Schlafsiedlung“ und „Betonwüste“.
  • Den Anwohnern gefällt es hier. Wenn nur die schlechte Anbindung nicht wäre.

Die Straße Unter Linden in Widdersdorf-Süd ist so breit wie die Kastanienallee in Berlin-Prenzlauer Berg. Ringsherum stehen keine Prachtbauten aus der Gründerzeit, sondern Reihenhäuser. Die Straße ist so breit, weil die Stadtplaner des ehemals größten Neubaugebiets Europas eine Bahntrasse mit bedacht haben. Wann die Schienen kommen, ob die Linie 1 verlängert wird oder die Linie 4, ist heute allerdings genauso unklar wie vor zehn Jahren, als die ersten Häuser bezogen wurden.

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Fragt man einen Stadtplaner und eine Familie nach Widdersdorf-Süd, so hört man zwei Geschichten, die so viel gemein haben wie eine Naturlandschaft und eine Betonwüste. Robert Broesi vom Städtebau-Büro Must hält den neuen Stadtteil im Kölner Westen schlicht für falsch geplant. „In Zeiten, in denen Großstädte wie Köln verzweifelt nach Wohnraum suchen, ist es problematisch, wie viel Fläche hier verbraucht wurde – und wie gering gleichzeitig die Nutzungsvielfalt ist.“ Mit Nutzungsvielfalt meint der Architekt die Mischung aus Wohnungen, kleinen Läden und Büros. „In Widdersdorf-Süd ist nicht mitgedacht worden, dass immer mehr Menschen künftig zu Hause arbeiten werden“, sagt Broesi. „Der Stadtteil sieht aus wie eine reine Schlafsiedlung.“

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Na und? Für Corinna, ihren Mann Jochen und die Kinder Michel (5) und Matti (2) ist Widdersdorf-Süd ein idealer Ort zum Leben. Noch ohne Kinder hat das Paar 2009 in dem neuen Stadtteil gebaut – „weil hier ein Ort entstanden ist, der direkt bei Köln ist und trotzdem ruhig wie ein Dorf, gut angebunden an Autobahn und Flughafen, dazu mit vielen Gleichgesinnten, und damals auch noch bezahlbar“, sagt Corinna. „Wenn die geplante Trasse kommen würde, könnte der dörfliche Charakter verloren gehen“, befürchtet die zweifache Mutter, die mit ihrer Familie in der Straße Unter Linden lebt. „Aber es hätte natürlich Vorteile, schneller in der Stadt zu sein – auch für die Kinder, wenn sie größer sind.“ Vorläufig nimmt Corinna mit den Kleinen gerne das Rad – im Ort eher eine Seltenheit.

Bänke, Bäume, ein Café, aber nichts los

Der Jakobsplatz im Neubaugebiet, ein sonniger Vormittag Ende September. Der Mitarbeiter des „Event-Café“ könnte aus Prenzlauer Berg sein: Er spricht nur Englisch. Auf dem Platz gibt es Bänke und Bäume, das Café hat eine Terrasse, blicken lässt sich niemand. „Hier ist leider auch im Hochsommer nichts los“, sagt Wolfram Wiedenbeck von der Interessengemeinschaft Widdersdorf. „Der Platz ist in privater Hand. Es gibt eine Wäscherei, einen Blumenladen und ein Geschäft zur Handy-Reparatur, das Café ist auf Events spezialisiert – das ist sicher nicht gut geplant worden.“ Belebte Orte finden sich auch im alten Teil von Widdersdorf kaum – der Stadtteil wirkt mit seinen Spielplätzen, Schulen, dem großen Sportplatz des SV Loewi und den Reihenhäusern mit den beschaulichen Vorgärten menschenfreundlich, aber ein bisschen blutleer.

Die Einwohnerzahl von Widdersdorf hat sich mit dem Neubaugebiet auf 12 500 Menschen verdoppelt. Um die Infrastruktur steht es nicht schlecht: Es gibt Ärzte, Einkaufsmöglichkeiten und Spielplätze, Schulen und Kitas sind allerdings überlastet – auch, weil es überdurchschnittlich viele Familien mit zwei, drei oder vier Kindern gibt.

Stau gehört zum Alltag

Das wohl größte Problem ist der Verkehr: Wer morgens um sieben Uhr mit dem Auto zur Arbeit will, steht am Lise-Meitner-Ring Richtung Militärring und an der Hauptstraße Richtung Bocklemünd im Stau. Bis zum Militärring dauert es dann eine halbe Stunde, bis zur Autobahnauffahrt in Weiden ebenfalls. Auch nachmittags sind die Zufahrtstraßen zuverlässig verstopft.

Roselaine Wandscheer hat ein Jobticket, um zur Arbeit nach Bonn zu fahren. Das Auto lässt sie in Bocklemünd stehen, von Haustür zu Haustür braucht sie eine Stunde und zehn Minuten. Ohne Stau wären es mit dem Auto 45 Minuten – „mit normalen Verzögerungen allerdings eher eineinhalb Stunden“. Als die Familie sich entschied, in Widdersdorf zu bauen, „hieß es von Seiten des Entwicklers, dass die Stadtbahnlinie 4 bis Bocklemünd ausgebaut wird“, erinnert sich die 56-Jährige. „Die meisten Familien haben hier aber in dem Wissen gebaut, auf zwei Autos angewiesen zu sein.“ Sie könnte sich vorstellen, dass der Boulevard Unter Linden für eine Elektrobustrasse genutzt wird – „das wäre einfacher, umweltfreundlich und würde für die Menschen hier wohl ausreichen“, sagt sie.

Wann auf dem Widdersdorfer Boulevard Unter Linden eine Bahn verkehren wird, lasse sich noch nicht sagen, teilt die Stadt Köln auf Anfrage mit. Noch fehle ein Vergleich der Varianten, die Linie 1 oder die Linie 4 zu verlängern – diskutiert wird auch eine Anbindung der Stadtbahn an Brauweiler und Bergheim-Glessen. Der Zug für eine Bahnanbindung sei eigentlich längst abgefahren, meint Städteplaner Broesi. „Die Trasse hätte zeitgleich mit oder vor den ersten Häusern gebaut werden müssen. Wird eine Bahn in einem bereits bestehenden Wohngebiet installiert, wird sie viel weniger angenommen.“

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