„Multilingual und multikulturell“Gehörlose Geflüchtete werden doppelt benachteiligt

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Nijuscha Nazif (l. o.) braucht manchmal die Hilfe von Gebärdendolmetscherin Rita Dmitrieva (r.), um mit den Kindern zu kommunizieren.

Nijuscha Nazif (l. o.) braucht manchmal die Hilfe von Gebärdendolmetscherin Rita Dmitrieva (r.), um mit den Kindern zu kommunizieren.

Köln – Als alle Plätze um den großen, viereckigen Tisch besetzt sind, werden die Eltern auf den Balkon geschickt. Veronika (8), ihre Schwester Angelika (5) und Niko (8) schnappen sich jeweils einen weißen Jutebeutel und suchen sich Motive aus, mit denen sie sie bemalen wollen. Angelika entscheidet sich für eine pinke Mickey Maus. Veronika zeichnet einen Fuchs vor, der später ein oranges Fell bekommen wird. Wer mal mit zehn Kindern in einem Raum war, bemerkt sofort, wie leise diese besondere Kreativwerkstatt ist. Doch die Stille empfinden nur hörende Menschen, sagt Nijuscha Nazif. Die ukrainischen Kinder kommunizieren in Gebärdensprache, miteinander und so gut es geht auch mit den Projektverantwortlichen Nazif und Maike Beyer.

Beide jungen Frauen arbeiten bei Shahrzad, einem Verein für gehörlose Geflüchtete und Migranten, mit Sitz in einem schlauchigen Büro zwischen Weidengasse und Eigelstein. Vereinsgründerin Ahvat Mehbas hat schon vor Jahren in London angefangen, diese besondere Gruppe Menschen zu unterstützen, 2018 hat sie den Verein in Köln gegründet. Mehbas kommt aus dem Iran und hat einen gehörlosen Bruder. Sie spricht die deutsche und die persische Gebärdensprache.

Auch in der Gebärdensprache gibt es unterschiedliche Sprachen und Dialekte

„Unsere Mitglieder sind multilingual und multikulturell“, erklärt Beyer, die Sonderpädagogik und „Deutsche Gebärdensprache als Unterrichtsfach“ studiert. „Gehörlose Geflüchtete lernen in Deutschland sowohl die deutsche Gehörlosen- als auch die deutsche Lautsprachenkultur kennen. Außerdem müssen sie sich mit gleich drei neuen Sprachen vertraut machen: der Lautsprache, die sie von Lippen ablesen, der Schriftsprache und der deutschen Gebärdensprache.“

Fälschlicherweise gehen viele Menschen davon aus, dass Gebärdensprache eine Art internationale Zeichensprache ist, die überall verstanden wird. Tatsächlich ist sie länderspezifisch und es gibt teilweise wie in der Lautsprache unterschiedliche Dialekte. Generell ist Gebärdensprache sehr komplex und hat ein eigenes grammatikalisches System.

Kaum kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe von Gehörlosen

Da der Verein zu Beginn hauptsächlich Menschen aus dem arabischen Raum angesprochen hat, ist die Kommunikation mit den neuen ukrainischen Mitgliedern manchmal kompliziert. „In der Kreativwerkstatt mit den Kindern ist das nicht so schlimm“, sagt Nazif. „Da können wir uns irgendwie verständigen.“ In der Gesellschaft sieht sie aber generell noch sehr viele Barrieren, mit denen alle gehörlosen Menschen konfrontiert sind. „Es gibt kaum Aufklärung über Gehörlose und somit auch kaum kulturelle und wirtschaftliche Teilhabe.“

Gerade auf dem Arbeitsmarkt haben es Gehörlose ihrer Meinung nach schwer, weil lange ausgeblendet wurde, dass es Menschen gibt, die keine Lautsprache sprechen können. Laut Schätzungen des Deutschen Gehörlosen-Bundes sind etwa 80 000 Menschen in Deutschland betroffen. Genaue Zahlen gibt es nicht, weil „Behinderungen“ nicht meldepflichtig sind und Gehörlosigkeit unterschiedlich interpretiert wird. Die Medizin geht von einem 0,1-prozentigen Anteil der Betroffenen an der Gesamtbevölkerung aus.

Dolmetscher sind schwer zu kriegen

Erst vor 20 Jahren wurde die Gebärdensprache im Behindertengleichstellungsgesetz überhaupt als Sprache anerkannt. Sehr lange wurde gehörlosen Kindern antrainiert, anderen vom Mund abzulesen und nachzusprechen. Vor Gericht oder beim Arzt gibt es mit der Anerkennung zwar einen Rechtsanspruch auf gedolmetschte Sprache, doch Gebärdensprachdolmetscher sind oft Wochen im Voraus ausgebucht. Kurzfristig findet sich meist niemand.

So können Sie helfen

wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird

Mit unserer Aktion „wir helfen: damit in der Krise kein Kind vergessen wird“ bitten wir um Spenden für Projekte, die Kinder und Jugendliche wieder in eine Gemeinschaft aufnehmen, in der ihre Sorgen ernst genommen werden.  

Bislang sind 1.328.993,90 Euro (Stand: 27.09.2022) eingegangen. Die Spendenkonten lauten: „wir helfen – Der Unterstützungsverein von M. DuMont Schauberg e. V.“ Kreissparkasse Köln, IBAN: DE03 3705 0299 0000 1621 55 Sparkasse Köln-Bonn, IBAN: DE21 3705 0198 0022 2522 25

Mehr Informationen und Möglichkeiten zum Spenden unter www.wirhelfen-koeln.de.

So rutschen hörende Kinder oft schon sehr jung in die verantwortungsvolle Übersetzerrolle, um ihre gehörlosen Eltern zu unterstützen. Auch sie zählen zur Community und sind bei Shahrzad herzlich willkommen. Oft übernehmen die Angehörigen im Vereinsleben das Übersetzen. Je nach Möglichkeit zahlt der Verein auch ein Honorar, sagt Nazif. „Nur wenn wir die Menschen auch für ihre Arbeit bezahlen, ist das echte Teilhabe.“

Eine Begegnungsstätte für die Community

Im Alltag wird es nochmal komplizierter, wenn Geflüchtete jemanden benötigen, der ihre Landes-Gebärdensprache spricht. „Geflüchteten fehlt zum Beispiel bei Behördengängen auch noch der kulturelle Kontext“, sagt Nazif. „Sie sind mit doppelten Barrieren konfrontiert.“

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Die Shahrzad-Kreativwerkstatt für Kinder und Jugendliche wurde 2019 von „wir helfen“ gefördert und konnte wegen der Corona-Krise jetzt erst starten. Zeitlich kamen wegen des Angriffskriegs viele ukrainische Familien in Köln an. Die Familien mit gehörlosen Angehörigen sind in Köln gut vernetzt und kommen nun verstärkt zu den Angeboten, erzählt Nazif. Shahrzad bietet auch Gebärdensprach- und Computerkurse, damit die gehörlosen Geflüchteten im Alltag besser zurechtkommen. Am Wochenende werden Ausflüge gemacht, um etwas von Köln und der Umgebung kennenzulernen.

„Wir wollen eine Begegnungsstätte sein“, sagt Nazif. „Und den Menschen das Gefühl geben, dass sie bei uns einen Ort für sich haben.“ Dieser Ort soll wachsen. Damit die Eltern bald nicht mehr auf den Balkon müssen, sucht der Verein größere Räume.

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