Zu viel Sex beim CSD?Schamlos intolerant

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Christopher Street Day, Köln 2008. (Bild: ddp)

Christopher Street Day, Köln 2008. (Bild: ddp)

Hier ein vollschlanker Vollbärtiger, ganz und gar in Lack und Leder. Nein, nicht ganz: In der Gesäßregion haben die Designer der Haut Luft zum Atmen gelassen. Dort ein Mann, der - von Unterwäsche unbelastet - seinen Rock lüftet. Und im Gebüsch regt sich auch etwas. Als ich kurz nach meinem Coming-out das erste Mal den „Christopher Street Day“ in Köln besucht habe, war ich verwundert, ein ums andere Mal auch erschrocken. Doch ich bin im folgenden Jahr wiedergekommen, um für die Rechte von Schwulen und Lesben einzutreten. Und ich habe mich bald an die Normalität des Ausnahmezustands gewöhnt.

Der CSD ist heute so freizügig wie eh und je. Nicht wenige Heterosexuelle, aber auch manche Lesben und Schwule fühlen sich damit nicht wohl. „Wie soll ich meinen Kindern erklären, warum sich einer von jemand anderem wie ein Hund an einer Leine führen lässt?“ fragen Eltern. „Dürfen Schwule Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit haben, nur weil CSD ist?“ Das alles verbunden mit der Nachfrage, ob junge Familien am betreffenden Wochenende besser nicht mit dem Kinderwagen spazieren gehen sollten. Toleranz sei schön und gut, so ihre Devise. „Doch können nicht auch Homosexuelle Rücksicht nehmen?“

Langjährige CSD-Besucher wissen: In vielen Fällen sind es nicht die Kölner, die sich in der Stadt außerhalb der Grenzen des guten Geschmacks bewegen. Großstädter, die 365 Tage im Jahr ein offen schwules Leben führen können, schlagen weniger über die Stränge. In den Tagen des Straßenfests und der Parade lassen oft gerade diejenigen alle Hemmungen fahren, die für ein Wochenende ihrem engen Leben in der Kleinstadt oder im Dorf am Ende der Welt entflohen sind. Wer im Alltag schon schief angeguckt wird, weil er beim Straßefegen einem anderen einen Moment zu lang hinterherschaut, der nutzt die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten des CSD besonders gern.

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Das ist einerseits verständlich und befreiend. Andererseits muss auch in diesem Fall gelten, dass die Freiheit des einen aufhört, wo die des anderen verletzt wird. Das ist bei einem knappen Lederkostüm sicher nicht der Fall, spätestens aber, wenn zwei Personen anfangen, sich in der Öffentlichkeit oral zu befriedigen. Dazwischen gibt es viele Grauzonen. Wie sie genutzt oder eben nicht genutzt werden, ist eine Frage der Rücksichtnahme.

Heterosexuelle sollten akzeptieren, dass der CSD kein normales Wochenende ist. Nicht jeder nackte Hintern in der Fußgängerzone ist ästhetisch. Aber er liefert auch keinen Grund, sich zu ereifern - zumal die Tatsache, dass so viele hinschauen, auch mit einem weit verbreiteten Hang zum Voyeurismus zu tun hat. Ebenso ist die Aufregung über „Darkrooms“ im Rahmen von Partys unverständlich. Es handelt sich um geschlossene Veranstaltungen. Dort passiert auch nichts anderes als das, was das ein oder andere Ehepaar aus bürgerlichen Kreisen in Swingerclubs erlebt. Doch auch von Schwulen und Lesben darf Rücksichtnahme gefordert werden. Es wäre sogar grundfalsch, dies nicht zu tun. Homosexuelle anders zu behandeln, weil sie homosexuell sind, ist diskriminierend.

Die Veranstalter der CSD-Parade in Köln wissen das. Sie haben die Teilnehmer darauf hingewiesen, dass Sex in der Öffentlichkeit nicht geduldet wird. „Der CSD ist nicht prüde, und ein gewisses Maß an Freizügigkeit gehört für manche dazu, wenn sie sich und ihre Liebe feiern“, schreiben sie. „Wir bitten aber darum, Fingerspitzengefühl zu beweisen und Rücksicht gegenüber anderen Teilnehmern der Parade und den Menschen am Straßenrand zu wahren. Die Toleranz, die ihr einfordert, solltet ihr auch üben.“ So klar, so einfach.

Aber an Karneval lägen doch auch Menschen kopulierend in den Büschen, widersprechen manche - und beklagen Doppelmoral. Doch erstens sollte ein reifer Mensch Karneval nie als Ausrede für eigenes Fehlverhalten benutzen. Und zweitens ist Geschlechtsverkehr in der Öffentlichkeit auch an Karneval strafbar.

„Aber es ist ja keiner gezwungen hinzugehen“, lautet der nächste Einwand. Dabei ist es doch wünschenswert, dass viele dort hinkommen und gemeinsam feiern. Es geht darum, Brücken zwischen Homos und Heteros zu schlagen. Daher verhält es sich mit dem CSD wie mit anderen Partys: Der Gastgeber sollte darauf achten, dass sich alle wohlfühlen können. Ich finde es schade, dass auch manch aufgeschlossener heterosexueller Freund mich nicht zum CSD begleiten wollte, weil er vieles eher peinlich und eklig findet.

Dies ist alles andere als ein Aufruf zur Prüderie, sondern einer, mit der Provokation intelligent umzugehen. Ein bestimmtes Maß davon gehört bei einer politischen Veranstaltung wie dem Christopher Street Day dazu. Diese Provokation kann sich - gerade weil es um den Kampf gegen sexuelle Diskriminierung geht - auch in gewagten Kostümen äußern. Es wird schwierig, wenn hinter der Provokation das eigentliche Anliegen verschwindet - oder das Gegenteil des Gewünschten erreicht wird. Der Mann, der sich im Hundekostüm führen lässt, möchte damit sagen: „Akzeptiert mich mit meinen Neigungen. Ich bin ein Mensch wie jeder andere auch.“ Doch erreicht er damit die Menschen am Straßenrand? „Jetzt leinen die sich schon alle gegenseitig an“, sagen sie.

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