Simon Rattle in der Kölner PhilharmonieLester Lynch singt sich auch im Piano in die Herzen

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Lester Lynch hat den linken Arm zum Gesang erhoben. Er trägt einen schwarzen Anzug und eine rot-weiß gestreifte Krawatte. Rechts von ihm der Dirigent Simon Rattle, ebenfalls mit schwarzem Anzug. Im Hintergrund sieht man das restliche Orchester verschwommen, sie sitzen an ihren Notenpulten.

Lester Lynch in Begleitung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung des britischen Dirigenten Sir Simon Rattle

Unter Dirigent Simon Rattle führte das Sinfonieorchester des Bayerischen Rundfunks Mahlers 6. Sinfonie in Köln auf.

Von den neun Sinfonien Gustav Mahlers liebt Simon Rattle erklärtermaßen die sechste am meisten. Er hat sie mehrfach eingespielt und führt sie immer wieder auf. Tatsächlich markiert sie Schaltstellen der eigenen Dirigentenkarriere. So auch jetzt wieder: Seit dieser Saison Chefdirigent des bayerischen Rundfunksymphonieorchesters, geht er derzeit am Pult seines neuen Orchesters mit ihr auf Deutschland-Tournee – und schlug jetzt in deren Verlauf auch in der Kölner Philharmonie auf.

Es scheint auf Anhieb erklärungsbedürftig, dass sich ein gemeinhin so optimistisches und „positives“ Naturell wie der britisch-deutsche Stardirigent ausgerechnet in Mahlers schwärzeste (zugleich aber am „klassischsten“ gebaute) Sinfonie „verguckt“. Rattle selbst erklärt es so: Es gebe neben der unbestrittenen Düsternis auch viel Zuversicht in dem Werk – Zuversicht, die allerdings am Schluss scheitere.

Simon Rattle führt in Köln Mahlers 6. Sinfonie auf

Das Stück ist also vielseitig und vieldeutig, ambig und ambivalent – genauso wie die Welt, die es musikalisch darstellt. Das kann sich hören lassen, allerdings muss diese Erkenntnis dann auch klangliche Gestalt werden. Diesbezüglich freilich ließ der Kölner Auftritt mit dem in allen Belangen herausragenden Orchester keine Wünsche offen – wobei das erkennbar herzliche Einvernehmen zwischen Dirigent und Musikern zweifellos großen Anteil an dem Erfolg hat.

So oder so bleibt gerade das gigantische Finale mit den hammerfixierten Schicksalsschlägen für den fiktiven Helden eine extreme Herausforderung an das Hochhalten der dramatischen Spannung. Ihre Nichtbewältigung produziert unweigerlich Langeweile und Überdruss – wovon hier allerdings keine Rede sein konnte. Vielleicht ist die zwingende Integration des Heterogenen – das seine Eigenheit trotzdem behält – eines von Rattles Betriebsgeheimnissen jenseits einer intimen Vertrautheit, die sich allein im auswendigen Dirigat bekundet. In der Einleitung des Satzes etwa stellt Rattle kompromisslos eine Trümmerlandschaft hin, entfaltet ein Chaospotenzial, das kaum ahnen lässt, dass da noch etwas Zug und Richtung erhalten wird. Tut es dann aber, mit quälend intensiven Aufgipfelungen und Niederbrüchen, die durch eine souveräne Zeitorganisation möglich werden.

Auch Hindemith und Zemlinsky im Programm der Kölner Philharmonie

Was am Schluss geschah, ließ sich den vorangehenden Sätzen gleichfalls abhören, etwa der Konstellation von brutalem Marsch und überschwänglichem Alma-Thema im ersten. Rattle und das Orchester zeigen, auf der Basis eines nie wattigen, sondern stets bis in die Tiefen der Partitur konzisen und transparenten Grundklangs (mit herrlich ironisch-quäkenden Instrumentaleffekten im Scherzo), wie Mahler es macht. Wie ein vorübergehend erreichtes Idiom durch Angriffe „aus dem Keller“ so durchlöchert und ramponiert wird, dass es in etwas anderes umkippt. So entsteht eine schon theatrale Wucht, ein Thrill, der einen bedauern lässt, dass Mahler keine Oper geschrieben hat.

Eigentlich reicht die Sechste aus für einen kompletten Konzertabend, sie duldet, wie es scheint, kaum etwas neben sich. Die Gäste hatten es indes geschafft, der (nach der Pause erklingenden) Sinfonie zwei bemerkenswerte kürzere Kompositionen voranzustellen, die in ihrem Gewicht und ihrer Signifikanz den Charakter eines Vor- oder Einspielprogramms sprengten. Hindemiths „Ragtime“ von 1921 für großes Orchester und Zemlinskys „Symphonische Gesänge“ von 1929 auf übersetzte Texte aus afro-amerikanische Lyrik standen sogar konzeptionell in einem ziemlich genauen Bezug zum unangefochtenen Hauptwerk. Sämtliche drei Komponisten repräsentieren jene europäische Kulturwelt, deren Bedrohung 1933 und in den Folgejahren manifest wurde und die beiden später Geborenen ins Exil trieb. Keine Frage, dass Mahler, hätte er länger gelebt, gleichfalls ein Opfer lebensgefährlicher Verfolgung geworden wäre. Hindemith und Zemlinsky komponierten zudem in den gespielten Werken ausweislich deren amerikanischer Thematik ihr späteres Exil sozusagen voraus.

Bariton Lester Lynch raumfüllend und expressiv

Kommt im Sinne einer reizvollen Kontrastbildung hinzu, dass man sie im Unterschied zu der Mahler-Sinfonie zumindest hierzulande kaum kennt. Leider, wie hinzuzufügen ist. Dass Johann Sebastian Bach im Jazz immer wieder aufkreuzt, ist hingegen geläufig. Auch Hindemith stellt diese Verbindung so frech wie respektvoll her: Das Hauptthema des „Ragtime“ ist das Thema der c-Moll-Fuge aus dem ersten Wohltemperierten Klavier, das hier der lustvollen Einpassung in ein ihm doch ziemlich fremdes Terrain unterzogen wird. Dabei geht es sogar – besser: in Rattles Interpretation tat es dies – ziemlich ernsthaft und genau zu. Ein Mehr an schlendernder Lässigkeit wäre der Performance vielleicht nicht schlecht bekommen.

Eine echte Entdeckung waren auch besagte Zemlinsky-Lieder, die sich thematisch der andauernden rassistischen Unterdrückung der ehemaligen Sklaven in den USA widmen. Von wegen Südstaaten-Romantik. In ihrer grausigen Lustigkeit erinnern diese sieben Sätze an Mahlers alptraumhafte Soldatenlieder – auch hier ergaben sich Parallelen zur folgenden Sechsten. Großartig agierte der amerikanische Solist Lester Lynch – nicht nur weil sein herb-schöner Bariton raumfüllend-expressiv, mit großer Innenspannung der Phrase, stets durchdringend auch im zurückgenommenen piano herüberkam. Vielmehr bekam Lynch den schwierigen Balanceakt hin, panische Munterkeit mit Düsternis und Verzweiflung zu verschmelzen.

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