Lyrikerin Hilde Domin„Ich setzte den Fuß in die Luft“

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Hilde Domin konnte Gefühle und Erlebnisse nachtwandlerisch direkt umsetzen in ihre Wort-Bilder. (Bild: dpa)

Hilde Domin konnte Gefühle und Erlebnisse nachtwandlerisch direkt umsetzen in ihre Wort-Bilder. (Bild: dpa)

Wäre Hilde Domin nicht am 22. Februar 2006 zum Einkaufen in die vereiste Heidelberger Innenstadt gefahren, sie hätte ihren 100. Geburtstag sehr wohl erleben können. Aber sie stürzte, musste wegen eines Oberschenkelhalsbruchs operiert werden und starb am selben Abend. Sie war 96, plante eine Reise, hatte sich vom Alter niemals Vitalität und Aktivität verbieten lassen, die neben der Wirkung ihres Werks zum Geheimnis ihres Erfolgs gehörten.

Die kleine, weißhaarige, vor Unternehmungslust vibrierende alte Dame erschien wie ein Bollwerk gegen die Unbilden der Existenz. Stets waren ihr Mut und ihr Eigensinn zu spüren, abgetrotzt einem dramatisch verlaufenen Leben. Wo immer sie aus ihren Gedichtbänden vorlas und dazu von sich und den mehr als 20 Jahren im Exil erzählte, oft kamen um die tausend Besucher, auch zu ihrer letzten Kölner Lesung, Anfang Dezember 2003 in der Ehrenfelder Kulturkirche.

In Köln, wo sie vor 100 Jahren am 27. Juli 1909 geboren wurde, fühlte sie sich zu Hause und unbehaust zugleich. Die Riehler Straße 23 markierte die Heimat, wo die Eltern Paula und Eugen Löwenstein ihr ein „Urvertrauen“ mitgegeben hatten. Köln ist aber auch die Stadt, die sie nach ihrer Rückkehr aus dem Exil 1954 kaum wiedererkannte. Im Gedicht nannte sie Köln „die versunkene Stadt“: „Ich schwimme / in diesen Straßen. / Andere gehn“. Sie zog nach Heidelberg, wo sie ihr Jurastudium angefangen und ihren Mann kennen gelernt hatte, den Archäologen und Kunsthistoriker Erwin Walter Palm, der dort auf eine Professur hoffen konnte.

Die Dominikanische Republik zum Vorbild

Damals begann sie, sich Hilde Domin zu nennen, nach der Dominikanischen Republik, dem karibischen Inselstaat ihres Exils. Und damals veröffentlichte sie ihre ersten Gedichte, zunächst in Zeitschriften, dann 1959 im Band „Nur eine Rose als Stütze“. Jetzt, 50 Jahre danach, klärt sich der Blick auf das Werk, weil sorgsam verwahrte Dokumente aufgearbeitet und veröffentlicht werden. Die materialreiche Biographie von Marion Tauschwitz, Hilde Domins letzter enger Mitarbeiterin, und der Briefwechsel mit Palm bis Ende 1959 lassen auch erkennen, wie Exilerfahrung und Enttäuschung einer schweren Ehekrise ineinander fließen zum Erlebnis tiefsten Fremdseins: Angst, politisch und privat motiviert. Dieses Lebensgefühl braucht Gedichte als rettende Gegenkraft. „Fallschirm“ fängt so an: „Tränennasses Gedicht / der äußersten Einsamkeit / du Netz über dem Abgrund / weißer Fallschirm / der sich öffnet im Sturz...“

Hilde Domin bezog die „Geburt der Dichterin“ in Gesprächen auf den Tod ihrer Mutter 1951. Inzwischen weiß man, dass sie schon vorher ihrem Mann Verse schickte. Doch nun erst schrieb sie systematisch, und darin steckt großartige Selbstbehauptung gegen den hochgebildeten Macho, den sie 1936 in Rom heiratete. Seit die beiden Studenten aus jüdischen Familien 1932 Deutschland verlassen hatten, war sie Palms Sekretärin, Helferin, Ernährerin. Mit ihren Gedichten setzt sie gegen seinen eigenen, wenig glücklichen Poetenehrgeiz ein Werk, weckt Eifersucht - und setzt sich durch in der Öffentlichkeit.

Domin wollte verstanden werden

Als junge Dichterin hat sie sich damals gerne bezeichnet. Das passte insofern, als sie, auf hohem Niveau, Gefühl und Herzton in die Lyriklandschaft der Nachkriegsjahrzehnte brachte. Da wurde gerne Gottfried Benn zitiert, der das Gegenwartsgedicht als monologisch, nicht an einen Partner gerichtet, charakterisiert hatte. Hilde Domin wünschte die Ansprache, wollte verstanden werden. Ihre Verse, in denen Wolken und Vögel schweben, Blätter als „grüne Pfennige“ an Zweigen zittern und die Rose zum Symbol von Seelen- und Lebenskraft wird, laden zur Identifikation ein.

So zeitig wie insgeheim verrieten sich ihre Fähigkeiten. Die frühen Briefe an Erwin Walter Palm seit 1931 sind voller Übermut, Wortwitz, Spielfreude, Spaß an auffälligen Situationen und privater Neckerei, dann wieder ernst und diskussionsgewandt. Unbewusste Vorbereitung über Jahrzehnte, Ergebnis: die Lyrikerin Hilde Domin. Erfahrungen aus Exil, Flucht, Ferne, Liebe, Ehe ballen sich zusammen und kommen im Moment starker Erschütterung zum Ausbruch. Sie stoßen auf feinstes Empfinden für Sprache. Für solche Begabung findet sich eine quasi biologische Erklärung bei Benn, so Domin-fern seine Theorie sonst ist: Er stellt sich den gesamten Organismus des Poeten mit „Flimmerhaaren bedeckt“ vor, deren Reizempfindlichkeit nichts als dem Wort gilt, „und diese herangetasteten Worte rinnen sofort zusammen zu einer Chiffre“.

Daraus wird begreiflich, warum Domin-Gedichte weithin so gut „ankommen“ und warum mancher intellektuelle Betrachter in Reserve bleibt: Hilde Domin konnte Gefühl oder Erlebnismoment nachtwandlerisch direkt umsetzen in Wort-Bilder. In der Selbstgewissheit des perfekt rhythmisierten Verses sind selbst die Schrecken von Exil, Einsamkeit und Verlust für den Moment geborgen, wenn auch sorgenvoll. Für das Trotzdem-Vertrauen aufs Unsichere bleibt das Motto aus „Nur eine Rose als Stütze“ die beste Formel: „Ich setzte den Fuß in die Luft, / und sie trug.“ Etwas von alten Zaubersprüchen wacht in dieser Behauptung gegen die Übermacht der plumpen Schwerkraft wieder auf. „Eine Art magischer Spiegel“ ist das Kunstwerk in Hilde Domins Erörterung „Wozu Lyrik heute“ von 1967. In der zweiten Hälfte ihrer 96 Jahre baute die Flüchtige der Nazi-Zeit sich eine schwebende Bleibe: „Erfinde eine neue Sprache, / die Kirschblütensprache, / Apfelblütenworte, / rosa und weiße Worte...“

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