Brauchtum im RheinlandDas Geheimnis der eingemauerten Schuhe

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Den alten Schuhen auf der Spur: Kristin Dohmen, Bauforscherin beim LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland

Den alten Schuhen auf der Spur: Kristin Dohmen, Bauforscherin beim LVR-Amt für Denkmalpflege im Rheinland

Köln – Ein alter, immer noch ungelöster Fall beschäftigt Kristin Dohmen schon seit sechs Jahren. Es gibt einen Tatort, eine Reihe von Indizien, doch vom Motiv fehlt jede Spur. Detektivarbeit, Spurensuche, das Stöbern in Archiven auch im Ausland, all das gehört zum Job einer Bauforscherin. Doch es gibt Fälle, da kommt die Wissenschaft alleine nicht weiter. Da braucht es einen Hinweis aus der Bevölkerung, damit das Rätsel endlich gelöst werden kann. Was also hat es mit dem Corpus Delicti auf sich – mit dem gebrauchten Schuh?

Gefunden 2009 bei der Sanierung von Burg-Engelsdorf in Düren-Aldenhoven. Eine spätmittelalterliche Fenstersitznische war irgendwann im unteren Bereich nachträglich vermauert worden. Bei der Renovierung 2010 stieß man dort auf einen Hohlraum. Darin: ein einzelner, gebrauchter Männerschuh aus Leder, mutmaßliches Alter: 300 Jahre.

Weiterer Fall am Schloss Liedberg

Nächster Fundort: Schloss Liedberg am Niederrhein. Bei der Renovierung des Turms im Jahr 2010 werden in zwölf Metern Wandhöhe ehemalige Balkenlöcher geöffnet. Darin: acht einzelne, säuberlich eingemauerte Schuhe aus dem 18. Jahrhundert. Jeder der Frauen-, Männer- und Kinderschuhe zeigt mit der Spitze nach außen.

Die gleiche Situation findet Dohmen auf Schloss Hardenberg in Velbert-Neviges vor: drei Männerschuhe in einer vermauerten Wandnische. Und so geht es weiter: Im Winter 2013/14 in der Fensternische eines Giebelhauses aus dem Jahr 1519 werden vier Kinderschuhe gefunden; im Thekhaus in Erkrath-Hochdahl zwei einzelne Kinderschuhe, ein Männerschuh, eine Damenstiefelette. In Köln-Nippes, in einem Gründerzeithaus in der Eichstraße: Ein Schuh in der Brandmauer.

„Es sind immer einzelne, getragene und abgewetzte Schuhe. Sie wurden immer bei Umbauten ins Mauerwerk eingebracht. Das immerhin ist eindeutig“, sagt Dohmen. „Und sie wurden so versteckt, dass sie eigentlich nie wieder entdeckt werden sollten.“ Auffallend, so die Denkmalpfleger des Landschaftsverbandes Rheinland (LVR): „Sie wurden immer in der Nähe von funktionslos gewordenen Maueröffnungen gefunden.“

Gleiche Funde nicht nur im Rheinland

Überrascht war Dohmen, als sie feststellte, dass nicht allein im Rheinland alte Schuhe eingemauert wurden. Hausbesitzer und Denkmalpfleger in Hessen, Niederbayern, Rheinland-Pfalz, Saarland, in Tirol, aber auch in England machten gleiche Funde. In ganz Europa wurden bislang rund 1000 alte eingemauerte Schuhe registriert. Der älteste bekannte Schuh stammt aus der Wand hinter dem Chorgestühl der Kathedrale im englischen Winchester und ist rund 600 Jahre alt. Möglicherweise kommt der Brauch sogar aus England, wo ein volkstümlicher Heiliger im 13. Jahrhundert den Teufel mit seinem Stiefel gefangen haben soll.

Was aber hat das zu bedeuten? In keiner schriftlichen Quelle wird das Einmauern von Schuhen erwähnt oder gar erklärt, so Dohmen. Als ob eine Jahrhunderte alte Selbstverständlichkeit schlicht aus dem Bewusstsein der Menschen gelöscht worden ist. „Vermutlich handelt es sich um einen Brauch mit abergläubischem Hintergrund, eine Art Bann, Segen oder Schutz für das Gebäude“, spekuliert Dohmen. „Vielleicht wurden sie dort deponiert, wo das Gebäude nach dem Umbau besonders vor bösen Mächten geschützt werden sollte, an vermeintlichen Schwachstellen.“ Wer weiß es?

Die Schuhe werden konserviert

Weil der Brauch so unbekannt ist, werden viele Schuhe nach ihrer Entdeckung als Bauschutt auf dem Baustellencontainer entsorgt. Auch solche Meldungen erreichen Dohmen. „Es galt, im Dachgiebel mehrere Lagen Putz zu entfernen“, schreibt ein Schuhfinder aus dem Saarland: Ein Damenschuh war nicht einfach in die Wand gestopft, sondern sorgfältig eingebaut. Nach einer Zeit habe ich ihn weggeschmissen. Danach hatte ich das Ganze vergessen.“ Die zufällige Entdeckung der Schuhe ist dann immer mit der Zerstörung des uralten Brauchs verbunden. „Umso mehr müssen wir ihm mit wissenschaftlicher Sorgfalt und Respekt begegnen“, sagt Dohmen. Die Schuhfunde werden beim LVR-Amt für Denkmalpflege erfasst, die Schuhe konserviert.

Der Schuh aus Köln-Nippes, aber auch der mit der Maschine genähte Männerschuh aus dem Liedberger Turm zeigen, dass die rätselhafte Sitte noch bis ins späte 19., frühe 20. Jahrhundert ausgeübt worden sein muss. „Uns wundert, dass der Brauch heute so komplett vergessen ist.“ Und: Im Gegensatz zu Grundsteinlegung oder Richtfest wurde er irgendwann nicht mehr ausgeübt. Es ist wie ein Fadenriss.

Aus Achtung vor den Ahnen wurden die Schuhe auf Schloss Liedberg wieder in den alten Balkenlöchern eingemauert. Der heutige Schlossbesitzer fügte ein eigenes Exemplar hinzu. Man kann ja nie wissen, wozu es gut ist.

Wenn jemand den Brauch kennt und das Rätsellösen kann, so melde er sich bitte beim LVR unter

www.denkmalpflege.lvr.de

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