Neue Heimat in der EifelDie Bundeswehr rettete Familie Hussaini vor den Taliban aus Kabul

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Familie Hussaini aus Dahlem kam 2021 aus Kabul nach Dahlem. Das Bild zeigt von links Mutter Madina Ibrahimi, die Söhne Zulfagar und Abulfazl sowie Vater Abdul Wahab.

Heute ist wieder Normalität eingekehrt in das Leben der Familie Hussaini. In Dahlem haben sie nach der dramatischen Flucht aus Kabul ein neues Zuhause.

Nach der Machtergreifung der Taliban spielten sich dramatische Szenen am Flughafen Kabul ab. Familie Hussaini kam heraus, sie lebt nun in Dahlem.

Eine einzige E-Mail veränderte das Leben der Familie Hussaini aus Kabul im August 2021 über Nacht. Zwei Nachrichten standen darin. Erstens: Die Familie werde evakuiert. Die Bundeswehr hole die Hussainis sowie andere Ortskräfte aus Afghanistan. Zweitens: „Bitte verbrennen Sie alle Ihre Dokumente.“ Absender: die US-amerikanische Botschaft. Doch bis zur sicheren Zuflucht und zu ihrem heutigen Heim in Dahlem war es ein weiter und dramatischer Weg.

Das Verbrennen der Dokumente sei nötig gewesen, sagt die 38-jährige Madina Ibrahimi Hussaini. Sie habe eine Menge Fotos gehabt, die sie mit amerikanischen Soldaten zeigten: „Die mussten weg.“ Infolge des Truppenabzugs der Nato-Staaten und der Machtübernahme der Taliban wurde die Lage von Tag zu Tag gefährlicher. „Wir hatten Angst, aber nicht nur wir, alle Afghanen“, sagt sie. Bei vielen waren die Erinnerungen an die Terrorherrschaft der Taliban noch sehr präsent.

Die Hussainis lehrten in Kabul an internationalen Einrichtungen

Aber einige Afghanen hätten mehr zu befürchten gehabt als andere: „Die Frauen und die Ortskräfte.“ Sie gehört zu beiden Gruppen. Sie war Lehrerin im englischen Institut „Turquoise Mountain“. Ihr Mann Abdul Wahab Hussaini hat als Sportmanager an der American University of Afghanistan gearbeitet. Er nickt. „Nicht gut“, sagt Madina Ibrahimi Hussaini. Jede Art internationaler Zusammenarbeit ist für die Taliban ein rotes Tuch: „Wir wussten nicht, was mit uns passieren würde.“

In den Monaten, bevor die E-Mail der US-Botschaft kam, führte die Familie ein Leben unter der dem Radar. Sie verließen das Haus nur, wenn es unbedingt nötig war. Versuchten, kein Aufsehen zu erregen. „Damals dachte ich jeden Tag daran, wie ich meine Familie in Sicherheit bringen kann“, sagt Abdul Wahab Hussaini. Dann kam die E-Mail.

Ohne zu zögern, zündeten die beiden alles an, was ihre internationalen Beziehungen hätte verraten können – und aus Papier war. Von allem habe er sich aber nicht getrennt, sagt er und schmunzelt. Einiges habe er digitalisiert und auf eine Festplatte gezogen: „Die habe ich an einer speziellen Stelle im Garten vergraben.“

Die Tür des Hauses in Kabul haben sie nicht geschlossen

In zwei Rucksäcke packten Madina Ibrahimi und Abdul Wahab Hussaini das Allernötigste. Die Haustür lehnten sie an, als sie gingen. „Es war so schön, unser Stadthaus in Kabul“, sagt Madina Ibrahimi Hussaini. Erst fünf Monate, bevor die Taliban die Macht ergriffen, war es fertig geworden. Heute wohnt die Nachbarin darin. Zum Auto sind sie gegangen – über den Schultern die Rucksäcke, an der Hand den sechsjährigen Zulfaqar, auf dem Arm den dreijährigen Abulfazl. Die Jungs sind heute acht und fünf Jahre alt. Während ihre Eltern die Geschichte ihrer Flucht erzählen, sitzen sie daneben. Es ist auch ihre Geschichte.

Im Auto fuhren die Hussainis Richtung Flughafen. Viele Leute waren auf den Straßen – auch die Taliban. Als die Familie sich dem Flughafen näherte, ging es mit dem Auto nicht weiter. Sie mussten aussteigen. Rund um den Flughafen waren auch die Taliban. Gebrüllt haben sie, sagt Madina Ibrahimi Hussaini. Immer wieder riefen sie: „Nicht gehen!“ Und: „Kommt zurück!“ Wen sie erwischten, den schlugen sie: mit Holzscheiten und Peitschen. Damit sie Abulfazl und Zulfaqar nicht erwischten, schnappten die Eltern sich ihre Söhne und rannten los.

Die Taliban haben am Flughafen auf die Menschen geschossen

„Wir…“, setzt Madina Ibrahimi Hussaini an, dann fehlen ihr die Worte. „Wir mussten...“, hilft Sohn Zulfaqar aus. Beinahe eine Stunde sind die Hussainis gelaufen. Und längst am Ende ihrer Kräfte gewesen, als sie den Flughafen erreichten. Dort ging es zu wie im Hexenkessel. Die Taliban versuchten, die Afghanen daran zu hindern, das Gelände zu betreten. „Sie haben in die Menge geschossen und Feuer benutzt, um die Menschen zurückzudrängen“, sagt Abdul Wahab Hussaini.

Nato-Soldaten verteidigten das Gelände – auch vor den verzweifelten Flüchtenden. „Viele, viele waren gekommen“, sagt Madina Ibrahimi Hussaini. Alle wollten weg. Alle brauchten Hilfe. Aber nur die wenigsten erhielten sie. Weder das Feuer noch die Schüsse habe die Menschen abgehalten. „Wer die Bilder vom Flughafen in Kabul gesehen hat, weiß, in welcher Situation wir uns befanden“, sagt Abdul Wahab Hussaini.

Im Wasser war Kacka drin. Das hat so gestunken.
Zulfaqar Hussaini

Um den Flughafen gab es einen Graben – gefüllt mit Abwasser. „Da sind wir reingesprungen“, ruft Zulfaqar. Er läuft im Dahlemer Wohnzimmer eine geschätzte Strecke ab: die Breite des Grabens. „Im Wasser war Kacka drin. Das hat so gestunken.“

Die Familie harrte eine Stunde im stinkenden Abwasser aus

Sein Vater zeigt Bilder des Grabens auf seinem Smartphone. Von dem Wasser ist nichts zu sehen, so dicht stehen die Menschen darin. Er klickt sich durch die Bilder: Menschen auf engstem Raum, Blut an der Mauer, die Grenze des Flughafens, wieder das Blut derer, die versucht haben, auf der anderen Seite der Mauer hinauszuklettern. Abdul Wahab Hussaini kommentiert nicht, er klickt nur.

Zulfaqar sagt schließlich: „Die afghanischen Menschen im Graben waren laut und schubsig. Ich glaube, sie sind hochgeklettert, weil sie so viel Angst hatten.“ Die Hussainis haben das nicht versucht. Sie waren geduldig. Harrten eine Stunde im Abwasser aus, blieben ruhig, auch der dreijährige Ablfazl auf dem Arm seiner Mutter.

Über Taschkent, Frankfurt und Borgentreich ging es nach Dahlem

Ein kanadischer Soldat reichte Abdul Wahab Hussaini schließlich die Hand. Zog die Familie aus dem Graben, einen nach dem anderen. „Im Flughafen haben wir ein Band um die Hand bekommen“, sagt der Achtjährige. Ein Zeichen für die Flugberechtigung. „Und danach weiß ich nicht mehr.“ „Er war müde. Wir alle waren so müde“, sagt seine Mutter.

Zwei Tage und Nächte blieb die Familie im Kabuler Flughafen. Sie hoffte, dass alles gut gehen würde. Dann stiegen sie in die rettende Maschine der Bundeswehr. Mit dem Militär-Airbus A400M ging es nach Taschkent in Usbekistan (Passkontrolle, Corona-Tests). Von dort mit der Lufthansa nach Frankfurt (Passkontrolle, Visa). Anschließend mit dem Bus in ein Camp nach Borgentreich – eine ostwestfälische Kleinstadt im Landkreis Höxter (Medizinische Versorgung, siebenmonatiger Aufenthalt). Schließlich kam die Familie nach Dahlem.

Dahlemer stellen ihr Elternhaus für die geflüchtete Familie zur Verfügung

„Das Haus meiner Eltern war unbewohnt“, sagt der Dahlemer Wolfgang Schmitz. Seine Mutter sei im Pflegeheim, sein Vater gestorben. Er und seine Schwester waren sich einig: Eine geflüchtete Familie sollte dort einziehen. So fanden Schmitz, der im Haus nebenan lebt, und die Hussainis zueinander. In abendlichen Gesprächen erfuhr er, dass Abdul Wahab und Madina Ibrahimi Hussaini Lehrer waren, es jetzt nicht sein können, es gerne irgendwann wieder wären. Und er erfuhr, dass die Familie und er eine Leidenschaft teilen: den Sport.

Die Eheleute hatten in Kabul Sport studiert. 80 Sportarten hat der Sportmanager in seinem Studium kennengelernt: darunter Schach, Hammerweitwurf, Bogenschießen, Cricket und Tischtennis. Im indischen Bangalore hat er Yoga gelernt. „Abdul ist ein absoluter Bewegungsguru“, sagt Schmitz. Der lächelt verschämt. Er würde sich eher als Generalisten beschreiben: „In Afghanistan ist das so: Wenn du Sport lernen möchtest, dann musst du alles lernen.“

In Bad Münstereifel trainiert er den Tennis-Nachwuchs

Weil Schmitz so fasziniert war von Abdul Wahab Hussainis Sportphilosophien, nahm er ihn mit zum Training des Tennis-Clubs Rot Gold in Bad Münstereifel. Als sie sich kennenlernten, etablierte der Club gerade ein Ganzkörper-Bewegungstraining für Kinder. Das Motto: nicht nur Tennis, auch Seilspringen.

Das Muskelgedächtnis soll für viele verschiedene Bewegungsabläufe trainiert werden. „Und da ist Abdul absolut der richtige Mann“, sagt Schmitz. Jeden Samstag trainiert er inzwischen dort Kinder. In den kommenden Herbstferien zwei Wochen am Stück. Er bringt ihnen nicht nur bei, wie man einen Schläger hält, sondern all das, was der 38-Jährige über Bewegung weiß.

Abdul Wahab Hussaini ist froh, so etwas machen zu dürfen – etwas mit Sport, mit Unterrichten. Er nennt es „machen, was hier möglich ist“. Am liebsten würde er dort anknüpfen, wo er in Kabul aufgehört hat. Aber er weiß, dass das nicht so einfach geht, dass er zuerst mehr Deutsch lernen muss. Und er weiß, dass es kein Zurück gibt. Die Universität, an der er gearbeitet hat, ist heute von den Taliban besetzt.

Die Literaturlehrerin ist nun Deutschschülerin

Madina Ibrahimi Hussaini war in Kabul Literaturlehrerin. Dass sie sich Gedanken über Sprache macht, merkt man schnell. Immer wieder stellt sie grammatische Unebenheiten fest, sagt etwa: „Mitnehmen ist etwas komplett anderes als aufnehmen – dabei klingt es ähnlich.“ Auch sie möchte neu anfangen. Aber es ist schwer.

Es ist manchmal schwer hier.
Madina Ibrahimi Hussaini

In ihrer Muttersprache Dari war sie eloquent, wendig, schnell. Sie, die Lehrerin, ist nun im Deutschen wieder Schülerin. Auch das meint sie, wenn sie sagt: „Es ist manchmal schwer hier.“ Oft habe die 38-Jährige darüber nachgedacht, ob sie eines Tages zurückkönne nach Kabul. Zurück in das Haus, dessen Tür sie nur angelehnt hat. Zurück in die Stadt, in der ihre Familie lebt, die sie heute nur noch in kleinen Videos in ihrem Smartphone sieht. Manchmal möchte sie zurück in das Land, in dem sie alles gelassen hat. Manchmal, sagt sie, nur manchmal fühle sie sich so einsam hier in Dahlem. Ihre Stimme bricht.

Die Hussainis wollen ihren Söhnen die besten Chancen schaffen

„Wahab sagt mir dann immer, es ist kein Problem. Alles wird gut.“ Sie sieht ihren Mann an. Für die Kinder sei es das Beste. Und darum gehe es zuallererst, um Abulfazl und Zulfaqar. Abdul Wahab Hussaini: „An der Situation in Afghanistan können wir nichts ändern. Wir können nur geduldig sein. Aber wir können uns bemühen, die besten Zukunftschancen für unsere Jungs zu schaffen.“

Abulfazl und Zulfaqar sitzen neben ihren Eltern. Zulfaqar trägt ein Trikot. Er spielt in der Dahlemer Jugendfußballmannschaft im Mittelfeld. Er trägt die Nummer 9. Abulfazl ist gerade eingeschult worden. Schon fünf Fleißsterne habe er gesammelt, erzählt er. Dann klingelt ein Nachbarskind, um die beiden zum Spielen abzuholen. Gemeinsam laufen sie in den großen Garten hinter dem Haus.

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