Putins enttarnte LügenWo die PR-Maschinerie des Kreml versagt

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TV Hongkong

Berichte über die russische Invasion flimmern über Fernseher in Hongkong.

„Die Menschen glauben viel leichter eine Lüge, die sie schon hundertmal gehört haben, als eine Wahrheit, die ihnen völlig neu ist“, hat der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar einmal geschrieben. Es ist das Prinzip, nach dem auch politische Propaganda funktioniert: Lüge überzeugend im besten Wissen, dass du lügst, eliminiere alle Alternativen - und die Wahrscheinlichkeit, dass dir geglaubt wird, ist groß.

Die russische Desinformationsindustrie etwa läuft in diesen Tagen und Wochen auf Hochtouren. Seit der Eroberung der Halbinsel Krim 2014 ist der Strom von Behauptungen, erfundenen Gräueltaten, Halbwahrheiten und plumpen Lügen in sozialen Netzen sowie staatlichen russischen Massenmedien massiv angeschwollen.

Die Wahrheit ist für Despoten eine gefährliche Waffe, und Putins willfährige Helfer tun auch im Ukraine-Krieg alles dafür, diese Waffe durch gezielte Unwahrheiten zu entschärfen.

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Der erste Großkonflikt des Social-Media-Zeitalters

Im ersten bewaffneten europäischen Großkonflikt des Social-Media-Zeitalters ist der Smartphone-Bildschirm ein mächtiges Instrument der Stimmungsmache. Lange hat der Westen versucht, Putin als vernunftgesteuerten Machtmenschen zu lesen, als im Kern doch ansprechbaren und erreichbaren Mann. Mit der Invasion aber ist dieser Glaube zerbrochen. „Wir wurden eiskalt belogen“, sagte Außenministerin Annalena Baerbock am schicksalhaften 24. Februar 2022. „Der Kanzler wurde belogen, ich vom russischen Außenminister, die gesamte internationale Gemeinschaft.“

Es hat lange gedauert, bis die westliche Politik die tatsächliche Skrupellosigkeit der russischen Führung erkannte. Denn es geht um weit mehr als ein paar durchgeknallte Troll-Bots bei Tiktok oder Twitter. In seiner verstörenden Rede kurz vor dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hat Putin persönlich gelogen, dass sich die Balken bogen. Die Ukraine arbeite an der Atombombe. Falsch. Im Donbass finde ein Völkermord an Russen statt. Falsch. Die ukrainische Regierung bestehe aus Faschisten. Falsch.

Die Kremlpropaganda verfängt auch in Deutschland

Doch auch dem Kremlapparat unterlaufen Fehler. Es sind propagandistische Peinlichkeiten, die den russischen Präsidenten maßlos ärgern dürften, der seit Jahren mit allen Tricks an der Legende vom historischen Anspruch Russlands an weiten Teilen Osteuropas sowie am Comeback der mächtigen Sowjetunion strickt. Systematisch hat er über Jahre seine Strategie verfeinert, hat die staatlichen Sender auf sich eingeschworen, Personal ausgetauscht, kritische Journalisten mundtot gemacht, Dissidenten einsperren oder umbringen lassen. Und parallel ließ er mit gewaltigem Aufwand massenhaft Kremlpersonal, Bots und Spam-Accounts das Internet mit Fake-News fluten, die ihn feiern.

Propagandakanäle wie RT oder Plattformen wie Sputnik tragen die Manipulationen in alle Welt. Und jeder, der auch nur einen kurzen Blick auf Facebook und Twitter wirft, kann bestätigen, wie schnell Putin-hörige Trolle zur Stelle sind, wenn es darum geht, den russischen Machthaber und seine Politik zu verteidigen. Das heißt: Die Kremlpropaganda verfängt auch in Deutschland, wo zahllose Menschen die Erzählung von der angeblichen Supermacht in Bedrängung verbreiten und Putin zum Heilsbringer gegen die Zumutungen des kapitalistischen Westens auserkoren haben.

Putins peinliche Pannen

Im Digitalzeitalter aber lassen sich Lügen leichter entlarven als zu den Zeiten, in denen Putin das damals noch analoge Handwerk des Geheimagenten erlernte. Aktivisten entlarven Lügen im Netz inzwischen fast in Echtzeit. Die Szene der „Open Source Intelligence Investigators“ (OSINT), eine Art freiberufliche Geheimdienstler im Dienste der Aufklärung, ist hoch aktiv.

Beispiele für Putins Lügen:

Die falschen „Livebilder“

Das russische Staatsfernsehen zeigte am Montag angeblich „live“, wie Putin in Moskau das Dekret über die Anerkennung der selbst ernannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk unterzeichnete. Die Bilder waren um 22.35 Uhr Moskauer Zeit zu sehen. Der Stundenzeiger von Putins Armbanduhr jedoch stand auf der Drei. Auch die Sitzung des nationalen Sicherheitsrates Russlands, die das Staatsfernsehen ab 17 Uhr Moskauer Zeit als angebliche Live-Übertragung sendete, dürfte vorab aufgezeichnet worden sein: Die Armbanduhr von Verteidigungsminister Sergei Schoigu zeigte 12.47 Uhr. Das bedeutet: Die anwesenden Herren besprachen die „Bitten“ der abtrünnigen „Republiken“ um Beistand schon Stunden, bevor diese überhaupt offiziell geäußert wurden.

Die „polnischen Saboteure“

Am 18. Februar veröffentlichte ein Telegram-Kanal, der Inhalte der prorussischen Volksmiliz in Donezk verbreitet, ein Video. Es zeigte angeblich polnische Saboteure in Diensten der Ukraine, die versuchten, einen Chlortank im Separatistengebiet zu sabotieren. Das Problem: Die Bilder enthielten verräterische Metadaten wie Ort und Zeit der Aufnahmen und die Quelle einer zusätzlich eingefügten Audiodatei.

Sie stammte allem Anschein nach aus einem zwölf Jahre alten Youtube-Video, das finnische Soldaten zeigte. „Das ist die faulste und dümmste Information, die ich seit Ewigkeiten gesehen habe“, sagte Eliot Higgins dem Magazin „Motherboard“. Higgins betreibt die Webseite Bellingcat, auf der ein internationales Recherchekollektiv seit Jahren vor allem russische Propagandalügen entlarvt.

Die falschen Schützenpanzer

Am 21. Februar meldete die russische Nachrichtenagentur Tass, fünf ukrainische Soldaten hätten mit zwei Schützenpanzern die Grenze zu Russland überschritten. Russische Soldaten hätten beide Fahrzeuge zerstört und die Ukrainer getötet. Es war einer von vielen Berichten über angebliche Grenzverletzungen, Sabotageakte oder Überfälle durch die ukrainische Armee, mit der Russland seine Militäraktion im Grenzgebiet zu rechtfertigen versuchte.

IT-Spezialisten untersuchten die Metadaten des Videos – und stellten fest: Gedreht wurde der Film meilenweit entfernt vom angeblichen Schauplatz, und zwar nicht in Russland, sondern in der Ostukraine. Zudem war mindestens einer der zerstörten Panzer ein sowjetischer Schützenpanzerwagen vom Typ „BTR-70″ – ein Modell, über das die ukrainische Armee gar nicht verfügt. Er wurde offenbar übermalt.

Der Beschuss des Kindergartens

Nach dem Beschuss eines Kindergartens durch Artillerie behaupteten russische Quellen, die Aggression sei vom ukrainischen Militär ausgegangen. Lokalisierungsdaten und weitere digitale Bildinformationen zeigten jedoch, dass die Artilleriegranate, die das Gebäude zerstörte, aus einem Ort abgefeuert wurde, den pro-russische Separatisten besetzt hielten.

Die angebliche Notevakuierung

Am 18. Februar kündigten die Staatsoberhäupter der „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk an, dass sie wegen ukrainischer Aggressionen Notevakuierungen der Bevölkerung angeordnet hätten. Auch in diesem Fall zeigten Metadaten in den entsprechenden Videos, dass die „Notevakuierung“ zwei Tage zuvor gefilmt worden war, was Zweifel an einer „Notlage“ nährt.

Die Lebenshaltungslüge

In seiner verstörenden Rede vor dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine prangerte Putin hohe Lebenshaltungskosten, bittere Armut und grassierende Korruption im Nachbarland an. Die Attacke dürfte aber nach hinten losgegangen sein: Russen berichten, dass sich viele Zuschauer in diesem Moment fragten, ob Putin nicht in Wahrheit über sein eigenes, wirtschaftlich schwer angeschlagenes Land spreche. Ohnehin ist von der nationalistischen Euphorie, wie sie etwa nach der Annektion der Krim 2014 in Teilen Russlands herrschte, wenig zu spüren.

Das staatliche Meinungsforschungsinstitut Wziom – dessen Daten freilich mit Vorsicht zu genießen sind –, ermittelte damals 93 Prozent Zustimmung in der Bevölkerung zur „Wiedervereinigung“ mit der Halbinsel. Putins offizielle Anerkennung des sogenannten Donbass unterstützten dagegen „nur“ 73 Prozent.

Die falschen Bilder

Auch auf der Gegenseite lassen sich freilich Manipulationen, Irrtümer und Fake-Bilder ausmachen: Im Netz kursiert etwa das Video eines angeblich von der ukrainischen Luftabwehr abgeschossenen russischen Kampfflugzeugs. In Wahrheit handelt es sich um Bilder, die die Nachrichtenagentur vor mehr als zehn Jahren in Libyen aufgenommen hat. Andere Videoclips, die angeblich reale Kämpfe zeigen sollen, stammen in Wahrheit aus Videospielen.

Der Fallschirmspringer

Auf Tiktok verbreitete sich massenhaft das Video eines angeblich russischen Fallschirmspringers bei der Landung in der Ukraine. Tatsächlich hatte ein russischer Account einen Filmausschnitt von 2016 hochgeladen. Dennoch kam das Video nach wenigen Stunden auf mehr als 20 Millionen Zuschauer.

Der gekreuzigte Junge

Ein Klassiker der russischen Desinformation: „Gekreuzigter Junge“ ist der Titel einer Fernsehsendung, die am 12. und 13. Juli 2014 auf dem russischen Kanal Perwy ausgestrahlt wurde. Darin erinnert sich eine angeblich aus dem ostukrainischen Slowjansk in der Oblast Donezk geflüchtete Frau, wie vor ihren Augen der kleine Sohn und die Frau eines Milizsoldaten hingerichtet worden seien. Der Fernsehbericht enthielt falsche Angaben einer „Augenzeugin“, die berichtete, ukrainische Soldaten hätten Einwohner von Slowjansk gefoltert und einen dreijährigen Jungen gekreuzigt.

Spätere Recherchen und Faktenchecks zeigten, dass in Slowjansk niemand die Angaben der Frau bestätigen konnte. Von Kreuzigungen hatte in der Stadt niemand gehört. Die Geschichte über den „gekreuzigten Jungen“ wurde später als Täuschung enttarnt. Die „Augenzeugin“ war eine russische Schauspielerin. Die Geschichte ist in Russland heute sprichwörtlich für erfundene Gräueltaten.

„Wahrheit ist, womit deine Zeitgenossen dich davonkommen lassen“

Wahrheit ist ein abstraktes, fragiles Idealkonstrukt. Oder, wie der US-Philosoph Richard Rorty einmal sagte: „Wahrheit ist, womit deine Zeitgenossen dich davonkommen lassen.“ In komplexen Zeiten mit bruchstückhafter Information und zersplitternder Kommunikation sind Menschen gern bereit, als wahr zu empfinden, was sie glauben wollen. Sie suchen Verbindendes im Unverbindlichen. Hinzu kommen in Russland jahrelange Desinformation durch staatliche Medien und bezahlte (und unbezahlte) „Kreml-Bots“.

Männer wie Putin höhlen den Wahrheitsbegriff systematisch aus. Das führt dazu, dass jede noch so absurde Behauptung plötzlich wirkt, als könne sie doch einen Funken Wahrheit enthalten. Es ist ein bewährter Propagandamechanismus: Wenn nichts mehr „wahr“ ist, ist die Lüge auch keine Lüge mehr. Deutungsmacht ist reale Macht. Wir erleben eine Krise des Arguments.

„Steter Tropfen höhlt den Schädel“

Die frühere Piratenpolitikerin Marina Weisband, aufgewachsen in Kiew, fühlt sich an sowjetrussische Methoden erinnert: „Wenn ich Ihnen sage: ‚Der Himmel ist grün‘, dann ist es gar nicht so sehr mein Ziel, dass Sie mir auf Anhieb glauben“, schrieb sie. „Mein Ziel ist es vielmehr, so häufig zu behaupten, der Himmel sei grün, bis Ihre Ressourcen, den Widerspruch auszuhalten, erschöpft sind und Sie einlenken und sagen: ‚Das ist Ihre Meinung. Ich denke, der Himmel ist blau. Es gibt wohl keine Möglichkeit, die Farbe des Himmels objektiv festzustellen.‘ Steter Tropfen höhlt den Schädel.“

Der Schriftsteller Wladimir Kaminer („Russendisko“) sprach in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur von einem „merkwürdigen Gefühl“ in seinem russischstämmigen Bekanntenkreis. „Unsere Propaganda hat uns immer erzählt, was zu tun ist, wenn deine Heimat in Gefahr ist“, sagte er. „Aber wenn deine Heimat andere Länder angreift – darauf wurden meine Landsleute nicht vorbereitet.“ Es sei sehr wichtig, „dass wir uns gerade bei einem solchen Tsunami von Falschinformationen ein klares Bild erhalten von dem, was eigentlich Sache ist“.

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